Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль страница 76

Название: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher

Автор: Стендаль

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788026824862

isbn:

СКАЧАТЬ style="font-size:15px;">      »Eine glückliche Natur!« fuhr Graf Altamira fort. »Im Jahre 1815 hielt ich mich auf ihrem Gute bei Antibes verborgen. In dem Augenblick, wo sie die Hinrichtung des Marschalls Ney erfuhr, fing sie an zu tanzen.«

      »Wie ist das möglich?« rief Julian bestürzt.

      »Das ist die Parteiwut!« erklärte Altamira. »Im neunzehnten Jahrhundert gibt es keine wirklichen Leidenschaften mehr. Darum langweilt man sich in Frankreich so. Man begeht die größten Grausamkeiten, doch ohne Grausamkeit.«

      »Das ist das Allerschlimmste!« sagte Julian. »Wenn man schon Verbrechen begeht, so soll man wenigstens Genuß daran haben. Das ist ihr einziger Wert. Dann kann man sie zur Not sogar rechtfertigen.«

      Fräulein von La Mole vergaß vollständig, was sie sich schuldig war. Sie hatte sich fast zwischen Altamira und Julian gestellt. Ihr Bruder, der sie führte und gewohnt war, ihr zu gehorchen, sah nach der andern Seite des Saales und tat, um sich eine Haltung zu geben, als ob ihn die Menge zurückdrängte.

      »Sie haben recht«, sagte Altamira. »Was man heutzutage vollbringt, begeht man ohne Genuß und ohne spätere Erinnerung, selbst die Verbrechen. Ich kann Ihnen hier auf dem Balle etwa zehn Leute zeigen, die als Mörder verurteilt sein müßten. Sie haben es vergessen und die Welt auch … Wenn ich trotz der guten Dienste des Fürsten Araceli nicht gehenkt werde, und wenn ich eines Tages hier in Paris wieder zum Genuß meines Vermögens kommen sollte, will ich Sie einmal mit acht oder zehn hochangesehenen und von Gewissensbissen völlig freien Mördern zu Tisch einladen. Wir beide, Sie und ich, werden bei diesem Diner die einzigen nicht Blutbefleckten sein. Ich aber werde verachtet und beinahe gehaßt als blutdürstiges jakobinisches Ungeheuer, und Sie werden verachtet, weil Sie ein Mann aus dem Volke sind, der in die gute Gesellschaft eingedrungen ist.«

      »Nicht zu leugnen!« sagte Fräulein von La Mole.

      Altamira blickte sie erstaunt an. Julian würdigte sie keines Blicks. Altamira fuhr fort: »Sie müssen bedenken, daß die Revolution, an deren Spitze ich stand, nur deshalb gescheitert ist, weil ich nicht gewillt war, drei Köpfe zu opfern und unsern Parteigängern sieben oder acht Millionen zu überlassen, zu denen ich die Schlüssel besaß. Mein Landesherr, der heute darauf brennt, mich am Galgen zu sehen, hat mich vor dem Aufstand geduzt. Er hätte mir das Großkreuz seines Hausordens um den Hals gehängt, wenn diese drei Köpfe gefallen und die Gelder aus den betreffenden Kassen verteilt worden wären. Denn dann hätte ich wenigstens einen halben Erfolg gehabt, und mein Land hätte die übliche Verfassung … Das ist der Gang der Welt! Schachspiel, weiter nichts!«

      »Damals«, rief Julian mit glühenden Augen, »waren Sie noch kein Meisterspieler. Aber jetzt…«

      »Jetzt würde ich die drei Köpfe ruhig opfern, wollen Sie sagen, und nicht den Girondisten spielen, wie Sie mir neulich zu verstehen gegeben haben.« Und in schwermütigem Tone fügte Altamira hinzu: »Ich werde Ihnen antworten, wenn Sie einmal jemanden im Zweikampf getötet haben, was gewiß viel weniger häßlich ist, als einen durch den Henker hinrichten zu lassen.«

      »Offengestanden«, sagte Julian, »der Zweck heiligt das Mittel! Wenn ich nicht bloß Statist wäre, sondern einige Macht hätte, würde ich drei Menschen hängen lassen, um vieren das Leben zu retten.«

      In seinen Augen flammten die Selbstschätzung und die Verachtung der eitlen Urteile der Menschen. Sein Blick begegnete dem Mathildens, die dicht neben ihm stand, und die Verachtung darin wuchs noch.

      Sie fühlte sich tief gekränkt, aber es lag nicht mehr in ihrer Macht, Julian zu vergessen. Verdrossen ging sie weg und zog ihren Bruder mit sich fort.

      »Ich muß Punsch trinken und viel tanzen«, sagte sie sich. »Ich will das bessere Teil erwählen und um jeden Preis Aufsehen machen. Famos! Da kommt der durch seine Unverschämtheit berühmte Graf von Fervaques.« Sie nahm seine Aufforderung an und tanzte mit ihm. »Wir wollen einmal sehen«, dachte sie, »wer von uns beiden mehr anmaßend ist. Aber damit ich meinen Spaß habe, muß ich ihn zum Reden bringen.«

      Bald tanzten alle andern Paare die Quadrille nur noch mechanisch weiter. Niemand wollte sich eine von Mathildens pikanten Antworten entgehen lassen. Herr von Fervaques verlor die Ruhe. Er fand statt guter Einfalle nur gekünstelte Worte und schnitt Gesichter. Mathilde ließ ihre Laune an ihm aus; sie behandelte ihn niederträchtig, wodurch sie sich ihn zum Feinde machte.

      Sie tanzte bis in den Morgen hinein und brach dann tief erschöpft auf. Als sie im Wagen saß, benutzte sie ihre letzte Kraft dazu, sich traurig und unglücklich zu stimmen. Sie war von Julian verachtet worden und hatte keinen Grund, ihn zu verachten.

      Julian war auf dem Gipfel des Glücks. Ohne sich dessen bewußt zu werden, war er entzückt von der Musik, den Blumen, den schönen Frauen, der Vornehmheit ringsumher und am allermeisten von seiner eignen Einbildungskraft, die ihm Auszeichnungen für sich und die Freiheit für alle vorgaukelte. »Welch ein schöner Ball!« sagte er zum Grafen. »Es fehlt nichts.«

      »Doch! Es fehlt der Gedanke«, erwiderte Altamira. Und seine Züge verrieten jene Verachtung, die um so schärfer wirkt, weil man erkennt, daß die Höflichkeit es sich zur Pflicht macht, sie zu verhüllen.

      »Sie sind doch da, Graf. Der verkörperte Gedanke!«

      »Ich bin hier eingeladen meines Namens wegen. Man haßt den Gedanken in Euren Salons. Er darf sich nicht über die Höhe eines Gassenhauers wagen. Dann wird man belohnt. Aber ein denkender Mensch, dessen Einfalle kraftvoll und neu sind, der gilt als Zyniker. Ist Courier nicht von einem Ihrer Richter so bezeichnet worden? Sie haben ihn ins Gefängnis geworfen, ebenso Beranger. Alles, was sich bei Euch durch Geist einigermaßen hervortut, wird von den Pfaffen dem Staatsanwalt überantwortet, und die gute Gesellschaft klatscht Beifall. Das kommt daher, daß Eure altgewordene Gesellschaft die Konvenienz über alles stellt. Ihr werdet Euch nie über die soldatische Tüchtigkeit hinausschwingen. Ihr werdet Murats haben, aber keine Washingtons. Ich sehe in Frankreich nichts als Eitelkeit. Ein Mann, der beim Reden Einfalle hat, sagt leicht ein unvorsichtiges, treffendes Wort, und der Gastgeber empfindet das als Schändung seines Hauses.«

      In diesem Augenblick hielt der Wagen des Grafen, in dem Julian mit saß, vor dem Haus La Mole. Julian war verliebt in seinen Karbonaro. Altamira hatte ihm das schöne und offenbar urehrliche Kompliment gemacht: »Sie sind frei von der französischen Oberflächlichkeit, und Sie verstehen das Nützlichkeitsprinzip.« Zufällig hatte Julian vor zwei Tagen das Trauerspiel »Marino Faliero« von Kasimir Delavigne gesehen.

      »Hatte Bertuccio Isarello nicht mehr Charakter als alle die venezianischen Dogen?« dachte der rebellische Plebejer bei sich. »Und doch waren das Leute, deren Stammbaum bis ins Jahr 700 hinaufreicht, also noch hundert Jahre über Karl den Großen hinaus, während der vornehmste Adel auf dem Balle des Herrn von Retz sich mit Müh und Not bis ins dreizehnte Jahrhundert nachweisen läßt. Und an keinen von all diesen venezianischen Edlen jener Tage erinnert man sich noch; nur an Bertuccio Isarello. Eine Verschwörung beseitigt alle Titel, welche die gesellschaftliche Willkür geschaffen. Je nachdem einer dem Tod ins Antlitz schaut, bekommt er Rang und Würde. Selbst der Geist verliert sein Ansehen. Was wäre Danton heute im Jahrhundert der Valenods und Rênals? Nichts! Nicht einmal Staatsanwalt!

      Und doch! Er hätte sich den Pfaffen verkauft und wäre Minister. Denn im Grunde hat auch der große Danton gestohlen. Auch Mirabeau hat sich verkauft. Und Napoleon hat in Italien Millionen gestohlen. Sonst wäre er an der Armut gescheitert wie so mancher andre. Nur Lafayette hat nie gestohlen. Muß man stehlen? Muß man sich verkaufen? dachte Julian. Diese Frage ließ ihn nicht wieder los.

      Als er am andern Morgen in der Bibliothek seine Briefe schrieb, dachte er immer noch an nichts als an sein gestriges Gespräch mit dem Grafen Altamira. »Das muß man zugeben«, sagte er sich nach langem Grübeln, »wenn СКАЧАТЬ