Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen von Anatole France - Anatole France страница 6

Название: Gesammelte Erzählungen von Anatole France

Автор: Anatole France

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208852

isbn:

СКАЧАТЬ dieselbe zu erhalten.

      Die Justiz heiligt bestehende Ungerechtigkeiten. Hat sie sich jemals gegen die Eroberer aufgelehnt oder gegen die Gewalthaber, welche die Macht an sich gerissen haben?

      Wenn eine illegitime Macht sich erhebt, so braucht das Gesetz sie nur anzuerkennen, um sie dadurch legitim zu machen.

      Alles liegt in der Form. Und zwischen schuldig und nicht schuldig entscheidet ein dünnes Blatt gestempelten Papieres.

      Warum waren Sie nicht der Stärkere, Crainquebille? Wenn Sie, nachdem Sie ›verfluchter Polyp‹ gerufen hatten, sich zum Kaiser erklären ließen, zum Diktator, zum Präsidenten der Republik oder auch nur zum Stadtrat, so versichere ich Sie, daß ich Sie weder zu vierzehn Tagen Gefängnis, noch zu einer Geldstrafe von fünfzig Francs verurteilt hätte.

      Sie wären jeder Strafe entgangen, das dürfen Sie mir glauben.«

      So hätte der Präsident Bourriche ohne Zweifel gesprochen, denn er hat einen juristischen Sinn und weiß, was das Tribunal der Gesellschaft schuldig ist, deren Prinzipien er mit Ordnung und Regelmäßigkeit verteidigt.

      Die Justiz ist sozial, und nur böse Geister wollen, daß sie auch menschlich und gefühlvoll sei.

      Man verwaltet sie nach feststehenden Regeln, aber doch nicht mit Gefühlsduseleien oder Klarheit und Intelligenz.

      Man verlangt vor allen Dingen nicht, daß sie gerecht sei. Das hat sie nicht nötig, denn sie ist die Justiz, und der Gedanke einer gerechten Justiz kann wirklich nur in dem Kopfe eines Anarchisten entstanden sein.

      Der Präsident Magnaud fällt allerdings Billigkeitsurteile, aber sie werden kassiert, und das ist die wahre Justiz.

      Der wirkliche Richter wiegt die Zeugenaussagen nach dem Gewicht der Waffen. Das hat man in Crainquebilles Sache gesehen und in manchen anderen, viel berühmteren Fällen.«

      So sprach Jean Lermite, indem er mit langen Schritten den Vorsaal durchmaß.

      Josef Aubaret, der das Gerichtswesen kannte, kratzte sich die Nase und sagte:

      »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, so bezweifle ich, daß der Präsident Bourriche sich zu einer so hohen Metaphysik aufgeschwungen hat. Wenn er die Aussage von dem Schutzmann Nr. 64 gelten ließ, so tat er das lediglich, weil das nun mal alter Brauch ist. In der Nachahmung müssen wir die Beweggründe der meisten menschlichen Handlungen suchen. Wer den althergebrachten Gewohnheiten und Satzungen folgt, wird immer für einen ehrlichen Menschen gelten. Unter ›brave Leute‹ versteht man solche, die es machen wie die andern.«

      Crainquebille ergibt sich in die Gesetze der Republik.

      Als Crainquebille ins Gefängnis zurückgeführt worden war, setzte er sich auf den angeschmiedeten Stuhl und verharrte in stummem Staunen und stiller Bewunderung. Er wußte selbst nicht recht, daß die Richter sich getäuscht hatten.

      Das Gericht hatte ihm seine inneren Schwächen unter der Majestät der Formen verborgen. Er konnte nicht glauben, daß er Recht hatte gegenüber dem Tribunal, dessen Gründe er nicht verstanden hatte. Er vermochte nicht zu fassen, daß etwas bei dieser schönen Zeremonie hinkte. Denn da er weder in die Messe noch ins Theater ging, hatte er in seinem Leben nie etwas so pompöses gesehen, als diese Verhandlung im Gerichtssaal.

      Er wußte wohl, daß er nicht »verfluchter Polyp« gerufen hatte und daß man ihn zu vierzehn Tagen Gefängnis und fünfzig Francs Geldstrafe verurteilt hatte, weil er es gerufen haben sollte, aber allmählich wurde diese Idee zu einem erhabenen Mysterium für ihn, zu einem dieser Glaubensartikel, dem die Frommen anhängen, ohne sie zu verstehen.

      Es war wie eine dunkle, plötzliche Offenbarung – herrlich und schrecklich zugleich.

      Der alte Mann erkannte sich als schuldig, den Schutzmann Nr. 64 in mystischer Weise beleidigt zu haben, wie ein kleiner Junge in der Katechismusstunde Evas Sünde auf sich nimmt.

      Durch seine Verhaftung wurde er belehrt, daß er »verfluchter Polyp« gerufen hatte – also hatte er das in mysteriöser, ihm selbst unbewußter Art getan. Er fühlte sich in eine überirdische Welt versetzt. Seine Verurteilung war für ihn ein geheimnisvolles Wunder.

      Wie er schon von seinem Vergehen keine rechte Vorstellung hatte, so machte er sich von der Strafe erst recht keinen klaren Begriff. Seine Aburteilung war ihm als eine sehr feierliche, rituelle und vornehme Sache erschienen, als etwas Erhabenes, was man nicht begreifen kann, worüber sich nicht streiten läßt, als etwas, dessen man sich weder zu rühmen noch zu beklagen hat.

      Wenn der Präsident Bourriche in diesem Augenblicke durch die Decke herabgestiegen wäre mit einem Heiligenschein um das Haupt und Flügeln an den Schultern, so wäre Crainquebille von dieser neuen Manifestation der richterlichen Glorie nicht weiter überrascht gewesen.

      Er hätte sich einfach gesagt:

      »Ach so, meine Angelegenheit nimmt ihren Verlauf.«

      Am folgenden Tage besuchte ihn sein Advokat.

      »Nun, mein Lieber«, fragte Maître Lemerle, »geht es ziemlich gut? Nur Mut, zwei Wochen sind ja schnell vorüber. Wir dürfen uns übrigens nicht allzu sehr beklagen.«

      »Das ist wahr«, gab Crainquebille zu, »die Herren sind sehr freundlich und höflich gewesen. Nicht ein grobes Wort haben sie mir gesagt. Hätt’ ich gar nicht gedacht. Und haben Sie wohl gesehen, der Soldat hatte weiße Handschuhe angezogen.«

      »Überlegt man sich’s«, bemerkte der Advokat, »so war es das beste, daß Sie gestanden.«

      »Mag wohl sein«, erwiderte Crainquebille.

      »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Crainquebille. Eine mildtätige Person, die ich für Ihre Lage interessiert habe, hat mir fünfzig Francs für Sie übergeben, also gerade die Summe, zu der Sie verurteilt sind.«

      »Und wann werde ich das Geld bekommen«, fragte der Alte.

      »Das wird direkt der Kanzlei übergeben, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«

      »Na einerlei; sagen Sie der Person meinen besten Dank.«

      Dann wurde Crainquebille nachdenklich. Nach einer Weile meinte er: »Sonderbar, höchst sonderbar ist das, was mir passiert ist.«

      »Glauben Sie das nicht, Crainquebille, Ihr Fall ist durchaus nicht selten.«

      »So? – und können Sie mir vielleicht auch sagen, was aus meinem Wagen geworden ist?«

      Die öffentliche Meinung.

      Crainquebille war aus dem Gefängnis entlassen und schob wieder seinen Wagen durch die Rue Montmartre vor sich her und rief: Kohl, Rüben, Wurzeln!

      Er empfand weder Stolz noch Scham wegen seines Abenteuers.

      Es war keine peinliche Erinnerung für ihn, sondern wie ein Schauspiel, eine Reise, ein Traum.

      Nun aber war er froh, wieder im Schmutz herumzugehen über das Pflaster der Straßen und über sich den Himmel zu sehen, grau in grau im strömenden Regen – den lieben Himmel seiner СКАЧАТЬ