Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen von Anatole France - Anatole France страница 2

Название: Gesammelte Erzählungen von Anatole France

Автор: Anatole France

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208852

isbn:

СКАЧАТЬ Crainquebille machte weder historische oder politische, noch soziale Betrachtungen. Er verharrte in stummem Staunen. Der Apparat, der ihn umgab, flößte ihm eine hohe Bewunderung für die Justiz ein.

      Er war so von Ehrerbietung durchdrungen, so überwältigt von Angst und Schrecken, daß er die Entscheidung über seine Schuld ganz den Richtern anheim stellte.

      In seinem innersten Gewissen zwar fühlte er sich unschuldig, aber was war das Gewissen eines einfachen Gemüsekrämers gegenüber dem Gesetz und den Verwaltern der öffentlichen Strafgewalt. Schon sein Advokat hatte ihn halbwegs davon überzeugt, daß er nicht unschuldig sei. Eine kurze summarische Untersuchung hatte die ihn belastenden Anklagen ergeben.

      Crainquebilles Abenteuer.

      Jeremias Crainquebille, seines Zeichens ein herumziehender Gemüsehändler, zog tagaus tagein durch die Straßen von Paris und schob seinen Handwagen vor sich her, indem er rief: »Kohl, Rüben, Wurzel, Salat!«

      Und wenn er Porree hatte, rief er: »Spargel, schöne Spargel«, denn Porree sind die Spargel der Armen.

      Als er am 20. Oktober um die Mittagsstunde die Straße von Montmartre hinabfuhr, trat Frau Bayard, die Schustersfrau, aus ihrem Laden und an seinen Wagen.

      Prüfend wog sie ein Bund Porree in der Hand und sagte wegwerfend:

      »Das sind man recht jämmerliche Dinger, was sollen sie denn kosten?«

      »Fünfzehn Sous, Frau Meisterin«, erwiderte Crainquebille, »bessere finden Sie nirgends.«

      »Was, fünfzehn Sous für drei elende Stangen!« rief die Frau, und entrüstet warf sie das Gemüse auf den Karren zurück.

      In diesem Augenblick kam der Schutzmann Nr. 64 vorüber. Er näherte sich Crainquebille und sagte:

      »Fahren Sie weiter.«

      Seit fünfzig Jahren tat Crainquebille von morgens bis abends nichts als weiterfahren – immer nur weiterfahren.

      Gegen diese Ordnung hatte er nichts einzuwenden. Sie schien ihm im Gegenteil ganz gerecht und in der Natur der Sache. Er war darum auch geneigt, zu gehorchen, und drängte die Meisterin, ihren Bedarf an Gemüse zu nehmen.

      »Na, ich werde doch wohl noch aussuchen dürfen, was ich brauche«, erwiderte sie spitz und besah und befühlte von neuem die Porreebündel. Dann behielt sie eins, was ihr am größten erschien, und preßte es gegen ihren Busen, wie die Heiligen auf den Kirchenbildern die geweihten Palmenzweige an ihre Brust drücken.

      »Vierzehn Sous sollen sie haben«, sagte sie, »das ist mehr als genug. Aber ich habe kein Geld in der Tasche, ich muß es aus dem Laden holen.«

      Ihr Porreebündel im Arm, trat sie in den Schusterladen, wo bereits eine Kundin mit einem kleinen Kinde wartete.

      Jetzt ermahnte der Schutzmann Nr. 64 Crainquebille zum zweiten Male:

      »Fahren Sie weiter.«

      »Ich wart’ auf mein Geld«, erwiderte dieser.

      »Habe ich Ihnen etwa gesagt. Sie sollen auf Ihr Geld warten? Weiterfahren sollen Sie, verstanden?« wiederholte der Polizist.

      Währenddessen probierte die Schusterfrau dem Kinde, dessen Mutter es sehr eilig hatte, ein paar blaue Schuhchen an.

      Die grünen Köpfe der Porreestangen ruhten auf dem Ladentisch.

      In dem halben Jahrhundert, in welchem Crainquebille seinen Karren durch die Straßen schob, hatte er gelernt, den Vertretern einer hohen Obrigkeit zu gehorchen. Aber diesmal befand er sich in einer schwierigen Lage – zwischen Pflicht und Recht.

      Er hatte keinen juristischen Verstand. Er konnte nicht begreifen, daß sein persönliches gutes Recht ihn nicht davon entband, eine gesetzliche Pflicht zu erfüllen.

      Er sah in erster Linie nur sein Recht, das darin bestand, seine vierzehn Sous zu bekommen, und nicht die Pflicht, die ihn hieß, seinen Karren weiter zu schieben, immer weiter. Er blieb daher ruhig stehen.

      Zum dritten Male befahl ihm der Schutzmann in ruhigem, gelassenen Tone, weiterzufahren. Im Gegensatze zu vielen andern, die immer drohen und nie eingreifen, war der Schutzmann Nr. 64 sehr ruhig bei seinen Ermahnungen, aber sehr prompt dabei, ein Protokoll aufzunehmen. So war nun mal sein Charakter.

      Aber obgleich er ein ziemlicher Duckmäuser war, so war er doch ein tüchtiger Beamter und ein rechtschaffener Soldat. Mutig wie ein Löwe und sanft wie ein Kind, handelte er strikt nach seiner Weisung.

      »Sagen Sie mal, können Sie nicht hören, Sie sollen weiterfahren.«

      Crainquebille hielt den Grund, warum er stehen blieb, für zu wichtig, als daß er ihm nicht stichhaltig genug erschienen wäre. Er erklärte daher kurz und bündig:

      »Zum Kuckuck, wenn ich Ihnen doch sage, daß ich auf mein Geld warte.«

      Der Schutzmann begnügte sich damit, zu erwidern:

      »Ich soll Sie wohl wegen Zuwiderhandlung bestrafen, was? Wenn Sie das wollen, brauchen Sie ‘s man bloß zu sagen.«

      Als Crainquebille das hörte, zuckte er langsam die Achseln und blickte erst auf den Polizisten, dann zum Himmel hinauf, als wollte er sagen:

      »Gerechter Gott, als ob ich je die Gesetze verachtet hätte! Mich je gegen die Vorschriften und Dekrete aufgelehnt hätte, die man unserm herumziehenden Stande macht!

      Um fünf Uhr morgens bin ich schon in den Markthallen. Von sieben Uhr an reiße ich mir die Hände wund und schwielig an den Griffen meines Schubkarrens und rufe unermüdlich: Kohl, Rüben, Wurzel…

      Ich bin über 60 Jahre alt und bin so müde. Und Sie fragen, ob ich Lust hätte, die schwarze Fahne der Empörung zu schwingen. Sie wollen sich wohl lustig machen über mich, das ist grausam und schlecht.«

      Sei es nun, daß der Polizist diesen Blick nicht erfaßt hatte oder darin keine genügende Entschuldigung für den offenbaren Ungehorsam sah, er sagte nochmals, kurz und rauh, ob Crainquebille ihn verstanden habe.

      Zudem erreichte die Aufstauung der Fahrzeuge in diesem Augenblick ihren Höhepunkt in der Rue de Montmartre. Die Droschken, Karren, Möbelwagen, die Omnibusse und Rollwagen waren so eng zusammen gekeilt, daß es schien, als ob sie unentwirrbar ineinander geraten wären.

      Und über die unbewegliche Wagenburg erscholl ein wüstes Geschimpf und Geschrei. Die Droschkenkutscher wechselten mit den Schlächterburschen aus sicherer Ferne heroische Beleidigungen, und die Omnibusführer, die in Crainquebille einzig und allein die Ursache der ganzen Verwicklung sahen, nannten ihn einen alten Kohlkopf.

      Auf dem Trottoir drängten sich immer mehr Neugierige heran und verfolgten den Vorfall mit Interesse.

      Als der Schutzmann sich dieser Art beobachtet sah, dachte er nur noch daran, seine Autorität geltend zu machen.

      »Es ist gut«, sagte er kurz, und damit zog er ein schmutziges Notizbuch und einen sehr kurzen Bleistift aus der Tasche.

      Crainquebille blieb bei seiner Idee. Er gehorchte einer inneren Macht. Übrigens hätte er in diesem Augenblick weder СКАЧАТЬ