Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France
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Название: Gesammelte Erzählungen von Anatole France

Автор: Anatole France

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208852

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СКАЧАТЬ Dann machte er folgende Aussage:

      »Am 20. Oktober hatte ich nachmittags Dienst in der Rue Montmartre und sah, wie ein Individuum, das mir ein herumziehender Gemüsehändler zu sein schien, sich ungebührlich lange vor dem Hause Nr. 328 aufhielt und dadurch eine Verwicklung der Fahrzeuge verursachte.

      Ich gab ihm dreimal den Befehl, weiter zu fahren, aber er tat es nicht, und als ich ihm darauf drohte, daß ich ihn aufschreiben müsse, da schimpfte er mich ›Verfluchter Polyp‹, was mir beleidigend erschien.«

      Diese gemessene, bestimmte Aussage wurde von den Richtern mit sichtlichem Wohlwollen aufgenommen.

      Zur Verteidigung waren Madame Bayard, die Schustersfrau, und Doktor Matthieu als Zeugen geladen worden.

      Madame Bayard hatte nichts gesehen und gehört. Der Arzt hatte sich in der Menge befunden, die den Schutzmann umgab, als dieser den Händler ermahnte, weiter zu fahren.

      Seine Aussage verursachte einen Zwischenfall. »Ich war Zeuge der Szene«, sagte er. »Der Schutzmann hat sich verhört, der Mann hat ihn nicht beleidigt. Ich habe ihm das damals gleich gesagt, aber er bestand auf der Verhaftung und veranlaßte mich, meine Erklärung vor dem Kommissar abzugeben, was ich auch getan habe.«

      »Sie können sich setzen«, sagte der Präsident.

      »Gerichtsdiener, rufen Sie mal den Zeugen Matra wieder vor.«

      »Matra, als Sie die Verhaftung des Angeklagten vornahmen, hat Sie damals der Doktor Matthieu darauf aufmerksam gemacht, daß Sie sich getäuscht hätten?«

      »Ja, nämlich Herr Präsident, er hat mich beleidigt.«

      »Was sagte er denn?«

      »Er hat ›Verfluchter Polyp‹ gesagt.«

      Im Zuschauerraum wurde Lärm und Gelächter laut.

      »Sie können zurücktreten«, beeilte sich der Präsident zu sagen, dann wandte er sich ans Publikum und sagte, daß er den Saal räumen lassen würde, wenn noch einmal derartige ungebührliche Kundgebungen laut würden.

      Währenddessen fuchtelte der Verteidiger mit dem Rockärmel triumphierend in der Luft herum, und alle glaubten, daß Crainquebille freigesprochen werden würde.

      Als die Ruhe im Saal wiederhergestellt war, erhob sich Maître Lemerle.

      Er leitete seine Verteidigung mit einem Lob auf die Polizisten ein, auf diese bescheidenen Diener des Gesetzes, die bei einem kläglichen Gehalt den größten Ermüdungen und fortwährenden Gefahren ausgesetzt seien und täglich ihren Heldenmut beweisen müßten.

      »Es sind meist alte Soldaten«, sagte er, »die Soldaten geblieben sind, Soldat – das sagt alles!«

      Und Maître Lemerle erging sich in den höchsten Betrachtungen über militärische Tugenden. Er gehöre zu jenen, sagte er, die nicht zuließen, daß man die Armee beleidige, denn auch er gehöre ihr an und sei stolz darauf.

      Der Präsident nickte billigend mit dem Kopfe.

      Maître Lemerle war in der Tat Reserveoffizier. Er fuhr fort:

      »Nein, sicherlich, ich verkenne nicht die bescheidenen und doch so unschätzbaren Dienste, die unsere Schutzmannschaft Tag für Tag unserem wackren Volke leistet. Und niemals hatte ich eingewilligt, die Verteidigung zu übernehmen, wenn ich in Crainquebille den Beleidiger eines alten Soldaten gesehen hätte.

      Man beschuldigt den Angeklagten, gesagt zu haben ›Verfluchter Polyp‹.

      Der Sinn dieser Worte unterliegt keinem Zweifel. Wenn Sie ein Jargon-Wörterbuch zur Hand nehmen, so finden Sie ›Verfluchter Polyp‹: Spitzname für Polizist.

      Wie wir alle wissen, ist der Polyp ein amphibisches Ungetüm, das gierig seine Fangarme nach allen Richtungen ausstreckt.

      Man gebraucht diesen Spitznamen in gewissen Kreisen.

      Aber die Frage ist die: – wie hat Crainquebille es gesagt und vielmehr – hat er es überhaupt gesagt? Meine Herren, erlauben Sie mir, das zu bezweifeln.

      Ich will den Schutzmann Matra durchaus nicht einer bösen Absicht bezichtigen, aber er verrichtet, wie wir bereits sagten, ein mühseliges Amt. Er ist zuweilen übermüdet, überbürdet, überanstrengt. Unter solchen Umständen ist es möglich, daß er das Opfer einer Gehörs-Halluzination gewesen ist. Und wenn er soeben behauptet hat, der Herr Doktor David Matthieu, ein Offizier der Ehrenlegion und Oberarzt im Hospital von Ambroise Paré, eine Leuchte der Wissenschaft und ein Weltmann, habe ebenfalls ›Verfluchter Polyp‹ geschrien, so sehen wir uns genötigt anzunehmen, daß Matra damals nicht ganz klar bei Sinnen war, ja ich möchte sagen, obgleich es etwas schroff erscheinen mag: der Mann leidet an Verfolgungswahn.

      Und selbst wenn Crainquebille ›Verfluchter Polyp‹ gesagt hatte, so ist es noch die Frage, ob dies Wort in seinem Munde eine Beleidigung, also ein Vergehen ist.

      Crainquebille ist das uneheliche Kind einer herumziehenden Händlerin, die eine notorische Trinkerin war, er ist also als Alkoholiker geboren. Sehen Sie sich den Mann an und urteilen Sie selbst, was sechzig Jahre des Elends aus ihm gemacht haben.

      Meine Herren, Sie müssen zugeben, daß man ihn nicht verantwortlich machen kann.«

      Maître Lemerle setzte sich, und der Präsident verlas nun zwischen den Zähnen das Urteil, wonach Crainquebille zu vierzehn Tagen Gefängnis und 50 Francs Geldstrafe verurteilt wurde.

      Das Gericht hatte seine Überzeugung auf die Aussage des Schutzmannes Matra gestützt.

      Als Crainquebille durch die langen, düsteren Gänge des Gerichtsgebäudes geführt wurde, fühlte er ein ungeheures Bedürfnis nach Mitgefühl. Er drehte sich nach dem Soldaten um und rief ihn an:

      »He, Sie – Sie!…« aber der beachtete ihn nicht, und Crainquebille seufzte.

      »Ach Gott, wer mir das vor vierzehn Tagen gesagt hätt, daß ich das erleben muß! Die Herren sprechen so schnell« klagte er. »Sie sprechen gewiß sehr schön – aber zu schnell, zu schnell. Ich kann sie nicht verstehen, und sie verstehen mich nicht … Finden Sie nicht auch, Soldat, die Herren sprechen zu schnell?«

      Aber der Soldat ging weiter, ohne zu antworten oder auch nur den Kopf zu wenden.

      Crainquebille fragte kummervoll:

      »Warum geben Sie mir keine Antwort?«

      Und als der Soldat immer noch schwieg, rief der alte Mann voll Bitterkeit:

      »Mit ‘nem Hund hat man Mitleid, und Sie wollen nicht mal mit ‘nem armen alten Mann sprechen. Sie machen wohl das Maul nie auf, sind Sie nicht bang, daß es stinken wird?«

      Die Apologie des Präsidenten Bourriche.

      Einige Neugierige und zwei oder drei Rechtsanwälte verließen den Saal, nachdem das Urteil gefällt war, und der Gerichtsdiener kündete schon eine neue Sache an.

      Die Fortgehenden dachten nicht weiter über den Fall Crainquebille nach, der sie kaum interessiert hatte. Nur Herr Jean Lermite, ein Kupferstecher, СКАЧАТЬ