Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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СКАЧАТЬ Kulturarbeit. Es beherbergte in großen lichten Sälen mehr als hundert Kinder. Eine Schule war angeschlossen und auch für die städtische Jugend bestimmt. Außerdem umfaßte die Anstalt eine kleine Landwirtschaft, so daß der Bedarf an Ziegenmilch, Gemüse und anderen Nahrungsmitteln aus eigenem gedeckt werden konnte. Die Leitung des Waisenhauses erforderte demnach nicht nur erzieherische Umsicht, sondern auch praktische Tüchtigkeit. Pastor Aram, dem, wie jedem jungen Menschen, die unabhängige Selbstherrlichkeit schmeichelte, war mit Begeisterung bei der Arbeit. Er erlebte ein schönes, werkstattliches Jahr und spann noch höhere Pläne. Im vergangenen Frühjahr, kurz vor Antritt seiner großen Stellung, hatte er geheiratet. Howsannah, seine alte Liebe, war ein Mädchen aus Marasch, Tochter eines Pastors aus der ersten Generation des dortigen Seminars. Während die meisten Armenierinnen zart und eher klein gewachsen sind, hatte Howsannah eine hohe und etwas füllige Gestalt. Sie bewegte sich langsam, sprach nicht viel, machte oft einen teilnahmslosen Eindruck. Iskuhi aber behauptete einmal ihrem Bruder gegenüber, daß Howsannahs Sanftmut durch Eigensinn und Nachträgerei zeitweise gemildert werde. Diese heiter vorgebrachte Kennzeichnung schien aber nicht zuzutreffen, denn welche wirklich eigensinnige Frau würde ihre Schwägerin im Hause geduldet haben? Mit der neunzehnjährigen Iskuhi hatte es seine eigene Bewandtnis. Aram vergötterte seine junge Schwester. In ihrem neunten Jahre schon, nach dem Tode der Mutter, hatte er sie aus Yoghonoluk entführt, damit sie die Missionsschule in Marasch besuche. Später ließ er sie nach Lausanne kommen, wo sie ein Jahr in einem Pensionat untergebracht war. Die Kosten dieses vornehmen Ehrgeizes für die kleine Schwester deckte er mit klug ausgetüftelten Entbehrungen seinerseits. Er konnte sich ein Leben ohne Iskuhi nicht vorstellen. Howsannah wußte das und stellte selbst den Antrag eines Lebens zu dritt. Das junge Mädchen übernahm die Stellung einer Hilfslehrerin im Waisenhaus. Sie erteilte französischen Unterricht. Es war kein Wunder, daß Iskuhi Liebe erweckte, und nicht nur die ihres Bruders. Neben den herrlichen Augen war das Schönste an ihr der Mund. Auf ihren tiefgefärbten Lippen lag ein feuchter, lächelnder Pupillenglanz, als könne sie mit dem Munde sehn. Die drei hatten sich ein hübsches und gar nicht landesübliches Leben eingerichtet. Die Pastorwohnung lag im Waisenhaus. Sie verlor ihre Kahlheit schnell unter Howsannahs Händen. Diese hatte kunstgewerbliche Begabung und einen großen Spürsinn für schöne Dinge. Sie streifte in der Stadt und in den Dörfern der Umgebung herum, um den eingeborenen Frauen alte prächtige Gewebe, Holzarbeiten und anderen häuslichen Zierat abzuhandeln, mit dem sie dann ihre Räume belebte, welche Tätigkeit ihre Zeit oft wochenlang ausfüllte. Iskuhi aber hatte mehr Neigung für Bücher. Aram, Howsannah und Iskuhi lebten ganz eingesponnen. Das Waisenhaus und die Schule bildeten so abgeschlossene Welten, daß diese drei blühenden Menschen die drückende Gewitterluft in Zeitun kaum spürten. In seinen Sonntagspredigten entwickelte der Pastor bis tief in den März hinein aufmunternde Freudigkeit, die eher auf das friedliche Glück seines eigenen Lebens als auf eine geistesscharfe Beurteilung der Regierungsabsichten schließen ließ.

      Der Schlag traf ihn so furchtbar, daß er taumelte. Er sah sein Werk verloren. Doch dann faßte er wieder die eitle Hoffnung, die Regierung werde nicht den Mut haben, das Waisenhaus zu schließen. Aram sammelte sich schnell. Ein Wort Howsannahs gab ihm noch am ersten Tag der Verschickungen seine Kraft wieder. Nur in solchen Augenblicken wie dem jetzigen erfülle sich der Sinn christlichen Priestertums aufs höchste. So sprach die Pastorentochter. Eingedenk solcher Mahnung spannte Aram Tomasian seine Energie übermenschlich an. Nicht nur hielt er seine Kirche Tag und Nacht offen, um den einzelnen Austreibungsgruppen auf ihren Dulderweg geistliche Kräftigung mitzugeben; er ging von Haus zu Haus seiner Pfarrkinder, von Familie zu Familie, trat unter die Weinenden, half mit all seinen Geldmitteln, organisierte in den Zügen eine gewisse Ordnung, schrieb Hilferufe an alle Missionen, die auf der Verschickungsstraße lagen, drechselte Bettelbriefe an türkische Beamte, die er für wohlwollend hielt, er verfaßte Eingaben und Zeugnisse, er versuchte für manche Personen einen Aufschub zu erwirken, er handelte mit türkischen Maultierbesitzern Preise aus, kurz er tat alles, was sich in dieser grauenhaften Lage tun ließ, und wenn er nichts tun konnte, nicht einmal mehr mit den Leiden des Evangeliums trösten, da setzte er sich stumm zu den Schmerzversteinerten, schloß die Augen, krampfte die Finger ineinander und schrie in seiner Seele zu Christus.

      Die Stadt wurde von Tag zu Tag leerer, während sich die Landstraße nach Marasch mit langen Menschenschlangen füllte, die nicht vorwärts zu kommen schienen. Von der Zitadelle oben hätte ein Beobachter sie weit in die Berge hinein verfolgen können, und nichts hätte sein Grauen tiefer erregt als die schleichende Stille dieser Todeszüge, die durch das Grölen und Lachen der bewaffneten Schergen nur noch grausamer gesteigert wurde. Die ausgestorbenen Gassen Zeituns belebten sich inzwischen mit den Totenvögeln der Austreibung, mit Zufallsplünderern und Berufsdieben, mit der Stadthefe und mit räuberischen Umwohnern. Sie bezogen die verlassenen Häuser oder besuchten sie zumindest. Sofort setzte ein schwunghafter Speditionsverkehr ein. Leiterwagen und Karren fuhren auf, Lastesel zotteten heran. Gemächlich wurden Teppiche, Kleider, Wäscheberge, Bettstellen, Möbel, Spiegel auf das Fuhrwerk und die Tragtiere verladen, als handle es sich um eine rechtmäßige Übersiedlung. Die Behörden wehrten diesem Treiben nicht. Sie schienen sogar dem türkischen Bodensatz – sofern nur die Verjagung der Armenier klaglos verlaufe – damit stillschweigend eine Prämie zu gewähren. Es erinnerte fast an ein barbarisches Märchen, daß von jeglichem Handwerk je sechs Vertreter in »Sultanijeh« zurückbleiben mußten, damit das treibende Wrack des Alltags nicht ganz ohne Bemannung sei. Diese Glücklichen bestimmte aber nicht die Obrigkeit, sondern der Gemeinde lag es selbst ob, die Auswahl zu treffen, eine ausgewitzte Strafverschärfung, denn sie prüfte die Gemüter mit neuen Qualen.

      Der fünfte Tag war bereits angebrochen, und Pastor Aram hatte noch keine Vorladung erhalten. Nur ein mohammedanischer Mollah, ein Stadtfremder übrigens, war bei ihm erschienen, die Kirchenschlüssel einzufordern. Die protestantische Kirche werde, wie er höflich mitteilte, bis zum Abendgebet in eine Moschee umgeweiht sein. Dennoch erstarb die Hoffnung in Tomasian nicht, man werde das Waisenhaus in Ruhe lassen. Er befahl, daß von nun an alles zu Hause zu bleiben habe, niemand dürfe sich sehen lassen, kein Kind und kein Lehrer. Er verfügte ferner, daß auch tagsüber die Fensterläden geschlossen zu halten seien, daß bei Nacht kein Licht gemacht werden dürfe und kein lautes Wort zu fallen habe, über das so lebensvolle Haus senkte sich eine angestrengte Ausgestorbenheit. Gerade solche Gottesfopperei aber fordert die Aufsässigkeit des Schicksals heraus. Am nächsten Tage, dem sechsten, überbrachte einer der Amtsboten, die wie Todesengel schrecklich die Stadt durcheilten, dem Pastor die Aufforderung, sich unverweilt zum Stadtkommandanten zu begeben.

      Aram erschien im geistlichen Gewände. Sein Gebet war erhört worden. Nicht eine Spur von Angst und Erregung erniedrigte ihn. Er trat dem Stabsoffizier aufrecht und mit Ruhe entgegen. Das war in diesem Fall leider eine ganz verfehlte Haltung. Der Bimbaschi liebte es nämlich, wenn sich weinerliche Kreaturen vor ihm wanden. Dann war er bereit, ein Auge zuzudrücken, Vergünstigungen zu gewähren und ein guter Mensch zu sein. Die Sicherheit Arams aber erstickte dieses Wohlwollen, das aus dem Gegensatz seiner eigenen Größe zu dem bittflehenden Wurm entsprang:

      »Sie sind der protestantische Pastor Aram Tomasian, gebürtig aus Yoghonoluk bei Alexandrette.«

      Der Oberst grollte diesen Steckbrief herunter, ehe er sein Opfer anfuhr:

      »Sie haben morgen mit dem letzten Transport abzugehn! In der Richtung Marasch-Aleppo! Verstanden?«

      »Ich bin bereit!«

      »Ich frage Sie nicht, ob Sie bereit sind ... Ihre Frau und sonstige Familie geht mit. Sie dürfen keinerlei Gepäck mitnehmen, das Sie nicht selbst zu tragen imstande sind. Sie erhalten nach Maßgabe der Möglichkeit als Verpflegung im Tag hundert Direm Brot. Das übrige käuflich zu erwerben, steht Ihnen frei. Jedes eigenwillige Verlassen der Kolonne wird durch den Transportkommandanten bestraft, im Wiederholungsfalle mit dem Tode. Die Benutzung von Fuhrwerk ist verboten.«

      »Meine Frau erwartet ein Kind«, sagte Aram leise.

      Dieses Bekenntnis schien den Bimbaschi zum Spott zu reizen:

      »Das СКАЧАТЬ