»Europa wird es nicht dulden.«
»Sie sehen uns mit fremden Augen.« Unerträglich war diese Gelassenheit Ter Haigasuns: »Es gibt heute zwei Europa. Die Deutschen brauchen die türkische Regierung mehr, als diese sie braucht. Und die andern können uns nicht helfen.«
Gabriel starrte den Priester an, dessen gescheites Kameengesicht nichts aus der Fassung bringen konnte:
»Sie sind der geistliche Hirte von vielen tausend Seelen« – Bagradians Stimme hatte fast einen militärisch scharfen Ton – »und Ihre ganze Kunst besteht darin, daß Sie den Leuten die Wahrheit vorenthalten, so wie man Kindern und Greisen ein Unglück verschweigt, um sie zu schonen. Ist das alles, was Sie für Ihre Herde tun? Was tun Sie noch?«
Mit diesem Angriff aber schien Gabriel den Priester tief getroffen zu haben. Seine Fäuste auf dem Tisch schlossen sich langsam. Der Kopf sank auf die Brust:
»Ich bete ...«, flüsterte Ter Haigasun, als schäme er sich, den geistlichen Kampf preiszugeben, den er bei Tag und Nacht mit Gott um das Heil seiner Gemeinde führte. Vielleicht war der Enkel von Awetis Bagradian ein Freigeist und Spötter. Der aber ging, laut atmend, im Zimmer umher. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand klatschend gegen die Mauer, daß der Verputz abbröckelte:
»Beten Sie, Ter Haigasun!«
Und noch immer im Befehlshaberton:
»Beten Sie ... Aber man muß Gott auch unterstützen!«
Das erste Ereignis, das Yoghonoluk von den verheimlichten Vorgängen in Kenntnis setzte, trat noch am selben Tage ein. Es war ein warmer, bewölkter Freitag im April.
Gabriel Bagradian hatte auf Stephans Bitte im Park der Villa ein paar grobgezimmerte Turngeräte aufstellen lassen. Der Knabe war in allen körperlichen Übungen sehr geschickt und ehrgeizig. Es wurde auch mancher Sport getrieben, an dem sich der Vater beteiligte. Scheibenschießen war der beliebteste. Juliette freilich verstand sich bestenfalls zum Krocketspiel. Gabriel, Awakian und Stephan begaben sich heute gleich nach dem Mittagstisch – an dem der Vater kein Wort gesprochen hatte – zum Schießstand, der außerhalb der Umfassungsmauer des Parkes auf einem waldigen Vorberg gelegen war. Dort hatte Bagradian in einer etwa fünfzig Schritt langen schluchtartigen Querrinne das Unterholz aushauen lassen. Unter einer hohen Eiche war eine Pritsche mit Holzkeil hingestellt, auf der man im Liegen die Scheibe, die am andern Ende der Rinne an einem Baum befestigt war, klar anvisieren konnte. Awetis, der Jüngere, hatte seinem Bruder einen üppigen Waffenkasten hinterlassen: acht Jagdflinten verschiedenen Kalibers, zwei Mauser-Infanteriegewehre und eine große Menge Munition.
Gabriel schoß leidlich gut, doch hatte er unter fünf Patronen nur einen vollwertigen Treffer zu verzeichnen. Der stark kurzsichtige Awakian enthielt sich des Wettbewerbs, um den Respekt seines Zöglings nicht allzusehr auf die Probe zu stellen. Dieser aber mußte ein Meisterschütze genannt werden, denn von den sieben Schüssen, die er aus dem kleinsten der Jagdstutzen abgab, steckten sechs in der Spielkarte, die als Mitte der Scheibe diente, und vier davon in der Figur. Der Erfolg, den Stephan als Schütze über seinen Vater errungen hatte, erregte ihn heftig. Dazu kam, daß der Umgang mit der Schußwaffe, das Aufreißen des Verschlusses, das kraftvolle Einschieben der Patronen, Zielen, Knall und Rückstoß, daß all diese kriegerisch rauhe Tätigkeit auf jeden halbwüchsigen Burschen verwirrend und begeisternd wirkt. Er spürte den Schmerz in seiner schmalen rechten Schulter nicht, den der Kolbenstoß verursacht, und würde dieses männliche Spiel leidenschaftlich bis zum Abend fortgetrieben haben, hätte sein Vater nicht plötzlich abgewinkt:
»Es ist genug!«
Über Gabriel war nämlich ein unbekannter Zustand gekommen, desgleichen er sich nicht erinnerte je empfunden zu haben: ein fades Gefühl seiner selbst. Die Zunge schwer und trocken. Hände und Füße kalt. Blutleere im Kopf. Dies aber waren nur die äußeren Merkzeichen eines Vorganges im Mittelpunkt des Lebens selbst. Mir ist nicht schlecht, dachte er, nachdem er eine Weile gewartet hatte, was mit ihm geschehen werde, mir ist nicht schlecht, ich möchte nur aus meiner Haut fahren, mich selbst abstreifen. Zugleich bemächtigte sich seiner der sinnlose Wunsch, zu laufen, davonzulaufen, gleichviel wohin. »Wir werden ein bißchen spazierengehn, Stephan«, entschied er. Nicht allein bleiben wollte Gabriel. Denn ihm war, als müßte er sonst mit kurzen hastigen Schritten gehn, immer weiter, nicht mehr zurückkehren, bis er außerhalb der Welt geraten sei.
Awakian übernahm es, die Gewehre ins Haus zu tragen. Vater und Sohn aber verließen den Park und traten den Weg hinunter nach Yoghonoluk an, das keine zehn Minuten entfernt lag. Gabriel kam sich auf einmal wie ein uralter Mann vor, sein Körper wurde ihm so schwer, daß er sich auf Stephan stützte. Ehe sie noch den Kirchplatz erreicht hatten, schlug ihnen ein scharfes Stimmengewirr entgegen. Die Armenier sind im Gegensatz zu den Arabern und andern Lärmerzeugern des Ostens in der Öffentlichkeit still und verschlossen. Ihr altes Schicksal schon hält sie zurück, sich in schreiende Ansammlungen zu mischen oder solche gar zu veranstalten. Jetzt und hier aber hatten sich etwa dreihundert Dorfbewohner zusammengerottet, die in einem Halbbogen die Kirche belagerten. Unter diesen Männern und Frauen, Bauern und Handwerkern, gab es einige, die lange kehlige Verwünschungen ausstießen und die Fäuste schüttelten. Die Flüche galten ohne Zweifel den Saptiehs, deren abgetragene Lammfellmützen die Köpfe überragten. Die Hüter der Ordnung verfolgten wahrscheinlich die Absicht, die Menge von der Kirche zurückzudrängen, um Stufen und Eingang frei zu halten. Gabriel packte Stephans Hand und zwängte sich durch den Menschenhaufen. Sie sahen zuerst nur den hohen zerlumpten Kerl, der um seine schwarze Mütze einen Strohkranz geschlungen hatte und in der rechten Hand eine kurzabgeschnittene Sonnenblume schwang. Mit tödlichem Ernst vollführte die Erscheinung, einem inneren Rhythmus gehorchend, müd-tappende Tanzschritte. Es waren aber keineswegs Tanzschritte der Betrunkenheit. Das sah man sofort. Die Menge beachtete den Tänzer mit der Sonnenblume gar nicht. Ihre Augen hafteten an einem anderen Bild.
Auf den Stufen der Kirche saßen vier Personen. Ein Mann, zwei junge Frauen und ein Mädchen, das zwölf oder dreizehn Jahre alt sein konnte. Es war ein menschliches Dahocken, wie Gabriel es nie gesehen hatte; eine Art von sitzender Leichenstarre bei lebendigem Leibe. Eine ähnliche Haltung hatten die Verschütteten, die man aus zweitausendjähriger Lavaasche ausgrub: »Als ob sie lebten«. Alle vier sandten einen stumpfen und weiten Blick in die Ferne, in dem nichts haftenblieb, nicht die bewegte Menge und nicht das Haus des Apothekers, das ihnen gegenüberlag. (Was ist das, ein Blick? Eine winzige Veränderung des Auges, eine dunkle oder helle Verfärbung. Und doch zugleich ein Flügelwesen, ein Engel, den der Mensch mit seiner Botschaft ausschickt. Diese Engel hier aber flogen mit ihrer Botschaft an allem vorbei, die Flügel vors Antlitz schlagend.)
Der Mann, noch jung, mit einem schmalen, verwilderten Bartgesicht, trug einen langen grauen Lüsterrock, wie ihn hierzulande protestantische Pastoren zu tragen pflegen. Der weiche Strohhut war die Stufen hinabgerollt. Seine Hosen waren unten gänzlich ausgefranst. Die zerrissenen Stiefel, die dicke Staubkruste auf Gesicht und Rock des Mannes deuteten auf einen Fußmarsch hin, der einige Tage lang gedauert haben mußte. Auch die Frauen trugen europäische Kleidung, und zwar keine schlechte, soweit sich dies bei dem Zustand, in dem sie sich befanden, erkennen ließ. Jene, die dicht neben dem Pastor saß – unzweifelhaft seine Frau –, schien sich nicht länger gegen eine Ohnmacht oder einen Krampfanfall wehren zu können, denn sie legte plötzlich den Oberkörper zurück und wäre mit dem Kopf auf die Stufe geschlagen, hätte der Mann den Arm nicht ausgestreckt, um sie aufzufangen. Dies war die erste, wenn auch immer noch sonderbar ruckweise Bewegung in der Gruppe. Die andere Frau, die noch sehr jung sein mußte, verriet Schönheit auch in dieser Verfassung. Wie fahl und abgemagert ihr Gesichtchen auch war, die Augen hatten einen fiebernden Schimmer, und der weiche Mund stand offen, nach Luft schmachtend. Sichtbar litt sie Schmerzen. Sie mußte verwundet sein oder einen Schaden genommen haben, denn ihr СКАЧАТЬ