Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 29

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      Dies war der Auftakt eines harten Tages. Schon in der zweiten Marschstunde ereignete sich ein Todesfall. Ein alter Mann sank plötzlich um. Der Zug stockte. Der junge, sonst so freundwillige Offizier ritt zornig heran: »Vorwärts!« Einige versuchten den Alten aufzuheben und weiterzuschleppen. Sie mußten ihn aber bald wieder niedergleiten lassen. Ein Saptieh stieß ihn mit dem Fuß: »Auf, auf, du Schwindler!« Als er aber mit verdrehten Augen und offenem Mund liegenblieb, schob er den Leichnam in den Straßengraben. Der Offizier hetzte: »Nicht stehenbleiben! Es ist verboten! Weiter, weiter!« Arams bewegte Bitte und das Jammergeschrei der Familie konnten weder die Mitnahme des Entseelten noch auch ein rasches Begräbnis erwirken. Es mußte genügen, daß man das Haupt des Toten ein wenig erhöhte und je einen großen Stein zu beiden Seiten legte. Ihm die Hände über die Brust zu falten, dazu war keine Zeit mehr, denn die Saptiehs begannen plötzlich fluchend mit Stöcken und Knüppeln auf die zögernden Scharen einzuhauen. Der Transport geriet in Verwirrung, in ein fluchtartiges Laufen, das sich erst beruhigte, als der Tote schon weit zurückgeblieben war und die Raubvögel des Taurus näher kreisten.

      Kaum hatte sich das Entsetzen über dieses erste Opfer gelegt, als eine Yayli, eine plumpe zweispännige Kutsche, den Zug einholte. Die Wandernden wurden von der schmalen Straße in die sumpfigen Felder abgedrängt. Im Wagen saß ein umfangreicher Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, der viele Ringe an seinen Fingern trug. Mit seiner geschmückten Hand reichte er dem Kommandanten nachlässig ein Schriftstück zum Wagen hinaus. Er verfügte über das staatlich gestempelte Recht, sich eine oder mehrere Armenierinnen für seinen Hausbedarf auszuwählen. Da die Kutsche gerade mitten unter den Waisenkindern des Weges fuhr, fiel sein freundlich-müdes Auge auf Iskuhi. Er deutete mit seinem Stock auf sie und winkte ihr lächelnd zu. Der stattliche Mann hielt sich durchaus nicht für einen Frauenräuber, sondern für einen Frauenerlöser, war er doch bereit, eines dieser unseligen Geschöpfe seinem schmutzigen Geschick zu entreißen und bei sich aufzunehmen, in einer vorbildlichen Familie und in einem wohlverwahrten Stadthaus. Um so erstaunter aber war er, als die Schöne, anstatt sich beglückt in seine rettenden Arme zu begeben, laut den Namen »Aram« rufend, ihm entlief. Der Wagen folgte ihr. Vielleicht hätten alle Gründe, mit denen der Pastor seine Schwester zu schützen suchte, nichts geholfen. Daß er ihre europäische Erziehung ins Treffen führte, war ein Fehler der Verzweiflung, denn durch diesen Hinweis wurden die Wünsche des wohlwollenden Helfers in der Not nicht abgekühlt, sondern besonders erhitzt. Erst das schneidige Eingreifen des jungen Offiziers setzte dem Handel ein Ende. Dieser zerriß kurzerhand den Wisch des eifrigen Brautwerbers: Er, als verantwortlicher Kommandant, habe allein über das Schicksal der Verschickten zu bestimmen. Wenn sich der Effendi nicht mit der äußersten Geschwindigkeit entferne, so werde er ihn samt seiner Yayli auf der Stelle verhaften. Zur Bekräftigung dessen versetzte er der Kruppe des linken Pferdes einen Hieb mit der Reitpeitsche. Gekränkt verließ der um ein gutes Werk gebrachte Wohlbeleibte den Schauplatz in rücksichtslosem Trab. Von diesem Zwischenfall erholte sich Iskuhi schnell. Nach einer Weile erschien ihr die Geschichte wie eine Posse, die sie gar nichts anging, so daß sie über die komischen Einzelheiten in lautes Lachen ausbrach. Doch bald sollte ihr das Lachen vergehen. Es begann am Nachmittag mit dem Leiden der Kinder. Sonderbar war es, daß den Kleinen die wundgelaufenen Füße nicht allmählich, sondern plötzlich und allen auf einmal zum Bewußtsein kamen. Ein Klagen, Wimmern, Winseln, das den Frauen das Herz zerriß, setzte mit einem Schlage ein. Der gutherzige junge Offizier verstand aber nur in einem einzigen Punkte keinen Spaß. Bis auf die notwendigen Rasten durfte es keine Aufenthalte und Verzögerungen geben. Er hatte den Befehl, in den ersten Abendstunden mit dem Transport in Marasch einzutreffen. Während er alles andre oft gegen die Bestimmungen nach seinem Gutdünken einrichtete, gerade diesen Befehl wollte er pünktlich befolgen. Das hatte sich sein Ehrgeiz in den Kopf gesetzt. An eine Rast war also nicht zu denken, in der man die wunden Füße mit Öl und anderen Linderungsmitteln hätte behandeln können. »Das hilft alles nichts! Seht zu, daß wir nach Marasch kommen, dort könnt ihr euch pflegen! Vorwärts!« Es ging nicht anders, ein Teil der Kinder mußte getragen werden. Hierbei zeichnete sich auch die schwächliche Iskuhi aus, und zwar knapp bevor sie selbst die Beute eines schweren Unheils werden sollte.

      Ihr Bruder hatte sie mehrmals davor gewarnt, immer am Ende des Zuges zu bleiben, und zwar hinter den Waisenkindern, die ihn beschlossen. Hier, knapp vor den feindselig nachfolgenden Soldaten und allerlei Greuelgestalten, die aus den Dörfern neugierig herbeigelaufen kamen, war gewiß die unheimlichste Stelle des Transportes. Iskuhi aber ließ sich nichts sagen, da sie die Überwachung der Kinder als ihre Pflicht ansah, zumal diese von Viertelstunde zu Viertelstunde immer müder und fußmaroder wurden. Die anderen Lehrer des Waisenhauses entfernten, sich häufig, und dann blieb Fräulein Tomasian allein zurück, um die jammernde Schar mit verschiedenen Künsten vorwärts zu bringen. Des stets kläglicheren Gestolpers wegen zerriß auch der Zug öfter, und es entstand dann ein ziemlicher Zwischenraum zwischen der Nachhut und dem Hauptteil. Während einer solchen Trennung fühlte sich Iskuhi jäh von hinten angepackt. Sie schrie auf und suchte sich loszureißen. Über ihr ging ein furchtbares Gesicht auf, riesig, mit schmutzigen Bartstoppeln, schnaufend, augenrollend, stinkend, nicht menschlich. Sie schrie noch einmal gellend, und dann rang sie stumm mit dem Mann, dessen Speichel auf sie herabtroff, dessen braune Tatzen ihr das Kleid zerrissen, um sich in ihre nackten Brüste einzukrallen. Sie verlor die Kraft. Das Gesicht über ihr wuchs zu einer bergigen Höllenwelt, die sich immer verwandelte. Sie versank in dem scheußlichen Atem. – Iskuhis Glück wollte es, daß der Offizier auf das rasende Gezeter der Kinder hin scharf herangetrabt kam. Die braunen Tatzen schleuderten sie zu Boden. Die Gestalt suchte zu fliehen, erhielt aber doch noch einen Hieb mit der flachen Säbelklinge über den Nacken.

      Iskuhi raffte sich auf, ohne weinen zu können. Anfangs glaubte sie nur, ihr linker Arm sei durch die Anstrengung des Kampfes fühllos geworden. Wie eingeschlafen, dachte sie. Doch plötzlich schlug der wahnsinnige Schmerz auf wie eine Stichflamme. Sprachlos durch diesen Schmerz, konnte sie ihrem Bruder nichts erklären. Howsannah und Aram führten sie. Kein Laut kam aus ihrem Mund. Alles an ihr war ohnmächtig, nur die Füße nicht, die kleine schnelle Schritte machten. Wie sie damals Marasch erreichen konnte, blieb ihr ein Rätsel. Als die Stadt in Sicht kam, trat der verzweifelte Tomasian an den Offizier heran und wagte die Frage, wie lange die Verschickten in Marasch würden bleiben dürfen. Er bekam die offene Antwort, dies hänge nur vom Mutessarif ab, jedoch mit einigen Tagen Aufenthalt sei bestimmt zu rechnen, weil ja der größere Teil der vorhergehenden Transporte noch immer in der Stadt liege. Man müsse mit neuen Einteilungen rechnen. Aram hob flehend die Hände:

      »Sie sehen den Zustand, in dem sich meine Schwester und auch meine Frau befinden. Ich richte an Sie die Bitte, daß wir uns heute abend in die amerikanische Mission begeben dürfen.«

      Der junge Mann zögerte lange. Das Mitleid mit der armen Iskuhi aber überwog schließlich seine dienstlichen Bedenken. Im Sattel schrieb er einen Erlaubnisschein für Pastor Aram und die beiden Frauen:

      »Ich habe nicht das Recht, Sie freizulassen. Wenn man Sie erwischt, wird man mich zur Verantwortung ziehn. Sie haben den Befehl, sich täglich bei mir im Transportlager zu melden.«

      Die Missionsväter empfingen die drei Schützlinge und Schüler mit gramvoller Liebe. Sie hatten ihr Leben dem armenischen Christenvolk geweiht. Und nun fuhr dieser Blitzschlag herab, der nur ein schwacher Vorbote der großen Vernichtung sein konnte. Sofort wurde ein Arzt herbeigerufen, ein sehr jugendlicher und unerfahrener leider. Er zerrte an Iskuhis Arm hin und her. Durch die Höllenqualen dieser Untersuchung und die überstandenen Strapazen verlor sie jetzt wirklich für ein paar Minuten die Besinnung. Er finde keinen Knochenbruch, erklärte der Arzt, der Arm sei aber ganz merkwürdig ausgerenkt und verzerrt. Das Übel liege in der Schulter. Er legte einen großen, festen Verband an und verabreichte ein Betäubungsmittel gegen den Schmerz. Gut freilich wäre es, riet er, wenn sich der Arm mindestens drei Wochen lang in starrer Ruhelage befände. Iskuhi schlief in dieser Nacht keinen Augenblick. Howsannah war in dem Zimmer, das man den Frauen angewiesen hatte, sofort in Schlaf verfallen, der einer Bewußtlosigkeit glich. Aram Tomasian aber saß am Tisch der Missionsväter und beriet mit ihnen, was zu geschehen habe. Das Votum fiel einhellig aus. Der Rektor Reverend E. СКАЧАТЬ