Der Bürgermeister von Zeitun hieß Nazareth Tschausch. Er war der echte Bergarmenier. Hager, vornübergebeugt, blaß, mit einem buschig hängenden Schnurrbart unter der gebogenen Nase. Kein junger und gesunder Mann mehr, hatte er sich lange gegen die Übernahme der Verantwortung gewehrt. Er roch den brenzelnden Geruch der Zukunft. Die Querfalten über seiner Nasenwurzel wurden täglich tiefer, wenn er den steilen Weg zum Hükümet emporstieg, um die neuen Verfügungen des Kaimakams zu lernen. Seine Hand, die einen groben Stock umklammerte, war von schmerzhaften Gichtknoten entstellt. Der gescheite Kopf des Nazareth Tschausch hatte sogleich eingesehen, daß es fortan nur eine einzige Politik geben könne, gegen jede Provokation gewappnet zu sein, keinem Gesinnungshinterhalt in die Falle zu gehn und um Gottes oder des Teufels willen ein strammer ottomanischer Patriot zu sein. Im übrigen hegte Nazareth Tschausch ebensowenig wie die anderen Zeitun-Armenier eine Tücke gegen die Türkei im Herzen. Sie war das Schicksal der Nation. Man kann mit der Erde, auf der man lebt, mit der Luft, die man atmet, nicht hadern. Er spielte mit keinen kindischen Befreiungsträumen, denn schließlich war die Wahl zwischen dem Sultan- und dem Zarenreich nicht minder schwer als überflüssig. Er blieb ein Anhänger jenes Wortes, das seinerzeit unter Armeniern eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte: »Lieber in der Türkei körperlich zugrunde gehn als in Rußland geistig.« Einen dritten Weg gab es nicht.
Die Verhaltungsweise gegenüber der türkischen Behörde war somit eindeutig bestimmt. Das lebendige Vorbild ihres Führers Nazareth Tschausch schuf in der Bevölkerung eiserne Zucht. Bis auf weiteres kam keine danach geartete Vorfallenheit den heimlich-lüsternen Wünschen der Obrigkeit zustatten. Eine blutrünstige Musterungskommission erklärte Krüppel und Kranke für tauglich. Gut! Sie rückten ohne Wimperzucken ein. Der Kaimakam schrieb ungesetzliche Steuern und Kriegsleistungen aus. Gut! Sie wurden pünktlich erstattet. Derselbe Kaimakam ordnete bei den dümmsten Anlässen Siegesfeiern und patriotische Umzüge an. Gut! Das Volk erschien, strahlend von Bravheit, und sang die vorschriftsmäßigen Hymnen und Triumphlieder zum Takt der türkischen Militärmusik ab.
Auf diese Weise also gelangte man zu keinen Ereignissen. Was der großen Provokation demnach nicht glückte, sollte die kleine erreichen. Mit einemmal tauchten im Bazar, in den Cafés und Herbergen, auf allen Gassen und öffentlichen Plätzen ortsfremde, aber dennoch zutunliche Armenier auf, mischten sich in die Unterhaltungen, kiebitzten beim Karten- und Beinspiel, schlichen sich sogar in die Familien ein, woselbst sie besonders tief über die unerträglichen Zustände und die wachsende Bedrückung seufzten. Die Tageslosung des Verrats, welche diese Spitzel und Naderer heimbrachten, deckte nicht einmal die Selbstkosten. So kam der erste Kriegswinter ins Land, ohne daß aus dem stillen Wasser Zeituns der kleinste »Fall« zu fischen gewesen wäre, wie er höhern Orts dringend begehrt wurde. Da entschloß sich der Kaimakam, selbst die Rolle des Agent provocateur zu übernehmen.
Das Glück oder vielmehr das Unglück von Nazareth Tschausch wollte es, daß er in dem Kaimakam einen ganz unzulänglichen Gegenspieler besaß. Dieser war kein blutiger Tyrann, sondern ein Durchschnittsbeamter alten Stils, der einerseits seine Ruhe haben wollte und andrerseits sich nach »oben« decken mußte. Dieses Oben bestand in erster Linie aus dem Mutessarif des Sandschaks Marasch, dem die Kasah von Zeitun unterstand. Der Mutessarif selbst war ein äußerst scharfer Mann, unerschrockenes Mitglied von Ittihad, gewillt, die Entschlüsse Envers und Talaats über die »verfluchte Rasse« erbarmungslos zu vollstrecken, und sei es gegen die Befehle seines Vorgesetzten, des Wali von Aleppo, Djelal Bey. Der Mutessarif überschüttete den Kaimakam mit Anfragen, Mahnungen und peitschenden Vorwürfen. Dadurch sah sich der dicke Landrat von Zeitun gezwungen – weit lieber hätte er in Frieden mit den Armeniern gelebt –, irgendein Anklagefaktum zustande zu bringen, wenn auch nur gegen eine einzige hervorragende Persönlichkeit. Das Wesen des farblosen Beamten besteht ja gerade darin, daß er ohne eigenen Charakter den jeweiligen Vorgesetzten spiegelt. Der Kaimakam machte sich also an den Muchtar Nazareth Tschausch heran, lud ihn täglich zu sich, überschüttete ihn mit Freundlichkeit und bot ihm sogar gute Geschäfte mit dem Staat an. Tschausch erschien nicht nur pünktlich; wenn es gewünscht wurde, sondern er machte sich auch mit der arglosesten Miene die geschäftlichen Anregungen zunutze. Bei diesen Zusammenkünften kam man natürlich immer herzlicher ins Gespräch. Der Landrat setzte dem Bürgermeister seine leidenschaftliche Freundschaft für die Armenier auseinander. Tschausch aber bat inständig, solches Wohlwollen nicht so zu übertreiben; alle Völker hätten ihre Fehler, die Armenier nicht zuletzt. Sie müßten sich erst je nach Verdienst ihren Rang im Vaterland erwerben. Welche Zeitungen denn der Muchtar lese, um sich über die Lage wahrheitsgemäß belehren zu lassen? Nur den »Tanin«, das offizielle Reichsblatt, gab Tschausch zur Antwort. Was aber die Wahrheit anbetreffe, so lebe man ja in einem weltumstürzenden Kriege und die Wahrheit sei überall eine der verbotenen Waffen. Der Kaimakam, in seiner hilflosen Einfalt deutlicher werdend, begann Ittihad zu lästern, die Macht hinter der Macht. (Wahrscheinlich kam es ihm sogar vom Herzen.) Nazareth Tschausch erschrak sichtlich:
»Es sind große Herren, und große Herren wollen das Beste.«
Der Gefoppte geriet in Wut:
»Und Enver Pascha? Was denkst du von Enver, Muchtar?«
»Enver Pascha ist der größte Krieger unserer Zeit. Doch was verstehe ich davon, Effendi?«
Nun begann der Kaimakam wehleidig zu blinzeln und zu betteln:
»Sei offen mit mir, Muchtar! Weißt du, daß die Russen vorrücken?«
»Was sagst du da, Effendi? Ich glaube es nicht. Es steht nicht in der Zeitung.«
»Nun sage ich es dir. Sei offen, Muchtar! Wäre das nicht eine Lösung ...«
Nazareth Tschausch unterbrach ihn fassungslos:
»Ich warne dich, Effendi! Ein hochgestellter Mann wie du! Sprich nicht weiter, um Gottes willen. Es wäre Hochverrat. Doch fürchte dich nicht! Dein Wort bleibt in mir begraben.«
Wo dergleichen feine List versagte, war die offene Roheit nicht ferne.
Selbstverständlich gab es auch in Zeitun und seiner rauhen Umgebung »Elemente«. Diese erhielten, je länger der Krieg dauerte, um so häufiger Zuzug von außen. Aus den Kasernen von Marasch waren nicht nur etliche Armenier, sondern mindestens ebenso viele Mohammedaner durchgebrannt. Der zerrissene Bergkegel Ala Kaja bot einen bewährten und angenehmen Aufenthalt für Deserteure jeder Sorte, wie es sich in den Kasernen herumgesprochen hatte. Zu diesen Deserteuren stießen noch ein paar Hitzköpfe, ein Dutzend freibeuternder Naturen, die entweder etwas auf dem Kerbholz hatten oder die unbekömmliche Luft der Stadt nicht länger atmen wollten. Mitglieder dieser scheuen Gesellschaft tauchten hie und da nachts in den Gassen auf, um Proviant zu holen oder ihre Familien zu besuchen. Bis auf ein paar harmlos landesübliche Räubereien taten sie niemand etwas zuleide und waren sogar bestrebt, kein Ärgernis zu erregen.
Eines Tages aber wurde in den Bergen ein türkischer Eseltreiber verprügelt, und es steht gar nicht fest, ob von jenen Deserteuren. Einige Ungläubige behaupteten, der verlauste Kerl habe sich für ein Bakschisch der kaiserlich ottomanischen Regierung selbst so übel zugerichtet. Doch Scherz beiseite, der Mann lag wirklich zuschanden geschlagen im Straßengraben. Hiermit aber war der ersehnte Vorfall gegeben. Die Müdirs und Unterbeamten legten undurchdringliche Gesichter an, die Saptiehs patrouillierten nur mehr in Doppelposten durch die Gassen, und Nazareth Tschausch wurde diesmal zum Kaimakam vor- und nicht eingeladen.
Revolutionäre Umtriebe nähmen in bedenklichster Weise überhand, klagte der Kaimakam. Seine Vorgesetzten, insbesondere der Mutessarif von Marasch, forderten durchgreifende Vorkehrungen. Wenn er noch länger zögere, sei es um ihn geschehn. Er rechne daher fest auf die Hilfe seines Freundes СКАЧАТЬ