Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 23

СКАЧАТЬ Ding, hatte einen gestreiften Kittel an, wie ihn Kinder in Erziehungsheimen tragen. Unter diesem Kittel streckte die Kleine krampfhaft ihre nackten Füße vor, ängstlich bedacht, mit ihnen nichts zu berühren. Wie ein krankes Tier, dachte Gabriel, das seine verwundeten Pfoten von sich streckt. Und tatsächlich, die armen Füße des Kindes waren geschwollen, schwarzblau und mit offenen Wunden bedeckt. Ganz unversehrt und im vollen Besitze seiner Kraft schien nur der Tänzer mit der Sonnenblume zu sein.

      Über den Platz kam ein älterer Mann gelaufen, den man offenbar mitten von der Arbeit abberufen hatte, denn er trug noch eine blaue Schürze vorgebunden. Stephan erkannte den Meister Tomasian, der die Ausbesserungsarbeiten in der Villa geleitet hatte. Dem Jungen, der oft um die Handwerker neugierig herumgeschlichen war, hatte Tomasian damals voll Stolz von seinem Sohn Aram erzählt, der in der Stadt Zeitun eine angesehene Persönlichkeit sei, Pastor und Vorstand des Waisenhauses. Dieser dort ist gewiß sein Sohn, wußte Stephan. Der alte Tomasian blieb mit fragend erhobenen Armen vor der erschöpften Gruppe stehn.

      Pastor Aram holte mühsam seinen verflogenen Blick zurück, sprang mit erzwungener Leichtigkeit auf und versuchte ein beruhigendes Lächeln, als sei nichts Besonderes geschehn. Auch die Frauen erhoben sich, jedoch beide mit großer Anstrengung, denn hatte die eine einen unbrauchbaren Arm, so war die andre guter Hoffnung. Nur die Kleine in dem gestreiften Kittel blieb sitzen und glotzte ihre Leidensgenossen argwöhnisch an. Die jähen Ausrufe, die Weh- und Fragelaute der Begrüßung konnte man nicht verstehn. Als aber Pastor Aram den Vater umarmte, war es für einen Augenblick mit seiner Selbstbeherrschung zu Ende. Sein Kopf fiel auf die Schulter des Alten, und ein kurzes Aufschluchzen, ein rauhes Aushusten von Qual wurde hörbar. Das dauerte keine Sekunde, und die Frauen blieben stumm. Dennoch pflanzte es sich in der umgebenden Menge wie ein elektrischer Schlag fort. Wimmern, Schluchzen und Räuspern ging durch die Reihen. Nur verfolgte und unterdrückte Völker sind so gute Stromleiter des Schmerzes. Was einem einzelnen geschieht, ist allen geschehen. Hier vor der Kirche von Yoghonoluk waren dreihundert Volksgenossen von einem Leid ergriffen, dessen Geschichte sie noch nicht kannten. Auch Gabriel, der Fremde, der Pariser, der Weltbürger, der seine Abstammung längst überwunden hatte, auch er mußte etwas Würgendes niederzwingen, das in ihm aufstieg. Verstohlen sah er Stephan an. Aus dem Gesicht des Meisterschützen war der letzte Hauch von Farbe gewichen. Juliette wäre erschrocken, nicht nur über die Blässe des Knaben, sondern über den zügellosen Ausdruck von nicht verstehendem Entsetzen in seinem Gesicht. Sie wäre erschrocken, weil Stephan so armenisch aussah.

      Inzwischen hatte sich Doktor Altouni eingefunden, Antaram Altouni, die beiden Lehrer, die man aus der Schule geholt, der Muchtar Kebussjan und zuletzt Ter Haigasun, der auf seinem Reitesel gerade von einem Besuch in Bitias zurückgekehrt war. Der Priester rief dem Saptieh Ali Nassif ein paar türkische Worte zu. Niemand von der Menge draußen dürfe die Kirche betreten. Er selbst aber schob die Familie Tomasian samt dem kleinen Mädchen durch das Portal. Der Arzt und seine Frau, der Muchtar, die Lehrer folgten. Auch Gabriel Bagradian und sein Sohn traten in die Kirche. Draußen in der starken Nachmittagssonne blieb der Menschenhaufen und der Tänzer mit der Sonnenblume zurück, der auf den Stufen zusammensank und einschlief.

      Ter Haigasun führte die Erschöpften in die Sakristei, einen großen, hellen Raum, in dem ein Diwan und mehrere Kirchenbänke standen. Der Küster wurde um Wein und warmes Wasser gesandt. Der Arzt und seine Frau gingen sofort ans Werk. Das Mädchen mit dem verletzten Arm – Iskuhi Tomasian, des Pastors Schwester – wurde untersucht. Ebenso die Wunden Satos, der kleinen Waise, die Pastor Aram aus Zeitun mitgebracht hatte.

      Als ein Fremder oder Noch-Fremder stand Gabriel Bagradian, die Hand Stephans haltend, abseits und hörte das Durcheinander von Fragen und das Durcheinander berichtender Antworten. So lernte er, trotz mangelnder Ordnung und Folgerichtigkeit, die traurige Geschichte der Stadt Zeitun und die Geschichte Pastor Arams und der Seinen kennen.

      Zeitun heißt ein altes hochgebautes Bergnest im westlichen Teil des zilizischen Taurusgebirges. Es wurde ähnlich wie die Dörfer am Musa Dagh fast durchwegs von uransässigen Armeniern bewohnt. Da es aber ein sehr ansehnlicher Ort von etwa dreißigtausend Einwohnern war, so unterhielt die türkische Regierung dort eine bedeutende Zahl von Saptiehs und Truppen, von Offizieren und Beamten mit ihren Familien, was sie überall zu tun pflegte, wo eine nichttürkische Bevölkerung ausgewogen und überwacht werden sollte. Dies ist eine weltbekannte Taktik in all jenen Reichen, wo ein sogenanntes Staatsvolk allmächtig über andere Volksminderheiten herrscht. In der Türkei wurde sie besonders kraß geübt, da die Osmanen, die auf ihr adliges Vorrecht pochten, den verschiedenen »Millets« gegenüber nicht einmal die zahlenmäßige Überlegenheit besaßen. Nur Leute wie Gabriel Bagradian, die in Paris oder anderen Hauptstädten lebten, konnten in ihrem Idealismus bis zu diesem Frühjahr hoffen, daß eine Vereinigung der Gegensätze, eine Bereinigung der Blutsfeindschaft, ein Sieg der Gerechtigkeit unter jungtürkischer Flagge möglich sei. Gabriel kannte eine erkleckliche Zahl von diesen Advokaten und Journalisten, die sich durch die Revolution in den Sattel geschwungen hatten. In den Zeiten der Verschwörung war er mit ihnen nächtelang in den Cafés des Montmartre gesessen, bis ins Morgengrauen debattierend. Versicherungen ewiger Treue, messianische Zukunftsbekenntnisse wurden damals zwischen Türken und Armeniern gewechselt. Um des erneuerten Vaterlandes willen (mit dem er sehr wenig zu tun hatte) war er als verheirateter Mann in die Militärakademie eingetreten und in den Krieg gegangen, was den wenigsten von jenen türkischen Patrioten in Paris eingefallen war. Und jetzt? Er sah immer noch ihre Gesichter im Geiste, und eine nicht ganz erloschene Erinnerungswärme fragte erstaunt: Wie? Diese meine alten Freunde sind nun meine Todfeinde?

      Die Sache mit Zeitun war eine grobe Antwort. Man stelle sich einen hohen schrundigen Felsen vor, von einer wilden Zitadelle gekrönt, und in diesen Felsen eingefressen die Waben der alten Stadt. Eine abweisende hochmütige Pyramide übereinandergetürmten Gassenwerks, die sich nur mit den neueren Stadtteilen in der Ebene festsaugt. Zeitun war von jeher ein Pfahl im Fleische des türkischen Nationalismus gewesen. Denn wie es heilige Orte und religiöse Wallfahrtsstätten auf der Welt gibt, die den Geist in Andacht versetzen, so gibt es Ortschaften der Grimmigkeit und des Hasses, die das Blut von völkischen Fanatikern zum Sieden bringen. Bei Zeitun hatte dieser Haß sogar seine klaren Gründe. Erstens war die Stadt bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein im Besitz freier Selbstverwaltung gestanden, ein Sachverhalt, der auf unangenehme Erfahrungen hindeutet, die das Staatsvolk sich in grauen Zeiten daselbst geholt haben mußte. Ferner hatte sich in den Zeitun-Armeniern der alte Unabhängigkeitsdrang ihrer Geschichte erhalten und machte sich oft in hochfahrenden und verletzenden Lebensformen geltend. Die unverzeihlichste Ursache des Hasses lag aber in der Erinnerung an ihr überraschendes Verhalten im Jahre 1896. Hatte doch damals der gute Sultan Abdul Hamid neben anderen Freischaren auch die Hamidijehs – worunter eine aus beurlaubten Sträflingen, Räubern und Nomaden zusammengesetzte Soldateska zu verstehen ist – eigens zu dem Zwecke ins Leben gerufen, damit er eine muntere Truppe zur Hand habe, die jene Ereignisse reuelos zu entfesseln bereit sei, mit denen er allenthalben den reformsüchtigen Mund der armenischen Millet gründlich zu stopfen hoffte. Während diese Freischaren nun überall anders die besten Erfolge zu verzeichnen hatten, zogen sie sich gerade in Zeitun eine blutige Schlappe zu, anstatt auch hier, wie es ihnen versprochen war, ein lustiges und ertragreiches Massaker zu feiern. Und das Schlimmste, selbst die regulären Bataillone, die zu ihrer Unterstützung herbeieilten, wurden von den Zeitunlis unter grausamen Verlusten aus den engen Gassen geprügelt. Nicht einmal die Belagerung mit großer Macht, die dieser Niederlage folgte, richtete das geringste aus. Zeitun blieb uneinnehmbar. Als sich schließlich die europäische Diplomatie für den tapferen Armenierstamm ins Mittel legte und die Botschafter bei der Hohen Pforte, die sich schmachbedeckt nicht zu helfen wußte, eine vollkommene Amnestie für Zeitun erwirkten, da kannte die knirschende Demütigung keine Grenzen mehr. Alle kriegerischen Nationen, nicht nur die osmanische, überwinden militärische Mißerfolge, die ihnen von Gleichgearteten zugefügt werden. Aber durch eine Rasse geschlagen werden, die dem Waffenideal abhold ist, durch Händler, Handwerker und Bücherwürmer sich erniedrigt zu sehn, das kann ein wehrhafter Sinn niemals vergessen. So übernahm die neue Regierung, nachdem die alte verschwunden war, die Erinnerung an die Schlappe von Zeitun und die Erbschaft des Hasses.

      Welche СКАЧАТЬ