Es geschah nach diesen Worten des Jüsbaschi. Diese Patrouillen aber, zu Tod ermattete Unteroffiziere und Soldaten, stolperten halb bewußtlos an den starren Armeniersöhnen vorbei, deren Augen aus dem Eichenlaub katzenhaft glommen. Sie rückten nach kurzer Zeit wieder ein und meldeten dem diensthabenden Offizier, das Gelände ringsum sei frei und alles in bester Ordnung.
Gabriel Bagradian warf das brennende Zündhölzchen fort, mit dem er sich eine Zigarette angezündet hatte. Das Flämmchen leckte auf der Erde weiter und brannte eine kleine Grasmulde aus. Iskuhi, die sich nicht von Gabriels Seite rührte, zertrat das gierige Feuer. »Wie trocken ist alles«, sagte sie. Das Zündhölzchen entfachte in Gabriel den verwegenen Gedanken. Er stand eine Weile verloren da. Der Einfall war zweischneidig. Er konnte dem eigenen Volke ebensoviel Schaden bringen wie dem Feinde. Bagradian prüfte mit seinem Taschentuch als Fahne die Richtung des zeitweilig kräftigen Windes. Westwind, Meerwind, der die Zweige talabwärts schüttelte. Die Entscheidung konnte weder der Führerrat noch auch Gabriel allein treffen. Ter Haigasun, das Oberhaupt des Volkes, sollte ja oder nein sagen. Nach einer schweigenserfüllten Minute sagte Ter Haigasun: »Ja!«
Unterdessen hatte schon die gesamte Kriegerschaft Altarplatz und Stadtmulde verlassen. Atemlos warteten die beiden Überfallsgruppen des Signals. Zwischen dem umlauerten Graben und den Steinschanzen lag noch eine Linie der restlichen Zehnerschaften, hinter den Steinschanzen die ganze Masse der Volksreserve. Dies aber war noch nicht alles. Es muß leider verraten werden, daß Stephan, der seiner Mutter längst wieder durchgebrannt war, sich trotz der unabwendbar nahen Katastrophe in einer äußerst gehobenen Stimmung befand. Das Schleichen und Flüstern im Finsteren, die dichte Nähe so vieler angstgeprägter Körper, das jähe Aufblitzen und Verlöschen wandernder Blendlaternen und hundert Abenteuerlichkeiten mehr wirkten auf Stephans gereizte Nerven wie die Bestätigung einer lustvollen Traumwelt. Dazu kam noch der ganz sonderbare Befehl, den die Jugendkohorte erhielt, und der Stolz, als letzte Brustwehr des Lagervolkes an dem vorläufig noch dunklen Plane teilnehmen zu dürfen. Man wird demnach verstehen, daß sich Stephans und seiner Kameraden Übermüdung in einen erwartungsvollen Rausch verwandelte.
Der ganz sonderbare Befehl aber bezog sich auf das Petroleum. Alle Petroleumfässer nämlich, die sich auf dem Damlajik befanden, darunter auch die beiden der Familie Bagradian, wurden ohne jede weitere Erklärung auf den Altarplatz gewälzt, und ebenso alles, was bei den erloschenen Feuerstellen an Ästen, Prügeln und Knütteln aufgestapelt war, eiligst herangetragen. Zuerst mußten die Buben, dann die alten Leute, die Frauen und Kinder bis hinab zu neun Jahren sich aus den Holzstößen einen möglichst starken und schlanken Stock holen. Die Lehrer und Samuel Awakian, welche diese Verteilung leiteten, konnten nur mühsam den Ausbruch von Streit und Geschrei verhindern. Sie schlugen mit den Fäusten zu und zischten: »Ruhe, ihr dummen Teufel!« Nicht anders verhielt es sich dann bei den Petroleumfässern. Die Äste mußten in die dicke Flüssigkeit bis zur Mitte getaucht und gequirlt werden. Es waren ihrer dreitausend mindestens. Dies kostete sehr lange Zeit. Noch immer drängten sich die Leute um die Fässer, als schon der lange Signalpfiff aufgellte und das Überfallsfeuer auf die von den Türken eroberten Gräben einblitzte. Hundertfach antwortete sogleich das hohle Gepolter aus der Schlucht, und ein unaufhörlicher schlaftrunkener Schreckensschrei mischte sich darein, der kaum mehr menschlich heiser war.
Gabriel Bagradian stand auf einer kleinen Felserhöhung zwischen der Linie und den Steinschanzen. Während des jäh aufknatternden Kampftumults, der sich von jedem andern Angriffslärm bisher vollkommen unterschied, hatte der Befehlshaber in einer Art traumgespannter Versunkenheit kein Wort zu den Leuten gesprochen, die hinter ihm warteten. Einige Minuten vergingen. Die nahen Schüsse krachten dünner. Gabriel konnte es kaum fassen, daß dieser erste Akt des Überfalls so schnell gelungen sein sollte. Doch Tschausch Nurhan gab schon das verabredete Zeichen: Einige leidenschaftliche Licht-Achter mit der Blendlaterne. Der Graben war wieder in den Händen der Verteidiger, die ihn, bei der Verfolgung des Feindes, bergabwärts überrannten. Ein Teil der türkischen Infanteristen verirrte sich in der Finsternis und fiel den nachdrängenden Zehnerschaften in die Hand. Ein andrer Teil lief, stolperte, stürzte der brüllenden Schlucht entgegen und wurde von den Verfolgern durch Bajonettstiche und Kolbenhiebe niedergeworfen. Gabriel Bagradian schickte Awakian zurück zur Reserve: »Fertig und vor!« Er wartete, bis das Gescharre und Geflüster der Menge seinem Standort sich näherte, dann lief er vor und stellte sich an die Spitze. Langsam drangen sie über den Bergrand, durch das dichte Unterholz, an Gefallenen vorbei gegen die tobende Waldschlucht hinab.
Dort ging es wie bei einer Treibjagd zu. Zwar versuchten die Tapfersten unter den Offizieren, Onbaschis und Soldaten sich immer wieder den Reisigbränden an der Lagergrenze zu nähern und sie zu zerstören, doch sie zerstörten damit nur ihr eigenes Leben. Der geschlossene Kreis des Komitatschifeuers jagte alles in die Mitte der Schluchtsohle zusammen. Offiziere schrien widersinnige Befehle durcheinander. Keiner hörte auf sie. Infanteristen und Saptiehs suchten brüllend ihre Gewehre, doch wenn sie diese fanden, konnten sie mit ihnen nichts anfangen. Jeder Schuß hätte nur den Kameraden und Bruder getötet. Viele warfen die Waffen fort, denn sie hinderten sie beim Springen und Rennen in dieser dornig-tückischen Weglosigkeit. Selbst das innere Leben des Armenierberges schien an der grausamen Vernichtung teilzunehmen. Das Dickicht wucherte gehässig hoch und höher. Die Bäume blähten sich listig auf. Peitschende Gerten und Schlingpflanzen ringelten sich um die Söhne des Propheten und brachten sie zu Fall. Wer gefallen war, blieb liegen. Der Todesgleichmut seiner Rasse überkam ihn, und er wühlte seinen Kopf in das stachlige Nest. Der Jüsbaschi hatte mit unerschrockener Energie und flachen Säbelhieben einen Haufen der völlig verwirrten Infanteristen zusammengetrieben. Als die Offiziere, Chargen und alten Soldaten in den schwachen Atemzügen der Lagerfeuer ihren Führer erkannten, stießen sie hinzu. Ein Kern des Widerstands oder besser eines neuen Angriffs begann sich zu bilden. Der Major, mit dem Säbel auf die Höhe weisend, röhrte: »Vorwärts!« und »Mir nach!« Seltsam erregt sah er seine Armbanduhr phosphoreszieren. Plötzlich fielen ihm die Worte ein, die er zum Kaimakam gesprochen hatte: »Ich will nicht weiterleben, wenn das armenische Lager nicht bis zum Abend liquidiert ist.« Und wirklich, er wollte nicht weiterleben in diesem Augenblick. »Mir nach!« keuchte er immer wieder. Er fühlte die Willenskraft in sich, als einzelner Mann die Katastrophe in einen Durchbruch zu verwandeln. Sein Beispiel wirkte. Und auch der Wunsch, der Hölle dieses Waldes zu entkommen, riß die Soldaten voran. Sie krochen aus den Verstecken ihrer Apathie und folgten schreiend dem Kommandanten. Unversehrt erreichten sie den oberen Ausgang der Schlucht. Mit jagendem Herzen, völlig entkräftet und ohne Wirklichkeitsbewußtsein mehr schwankten sie den Berghang empor, in das Licht der Blendlaternen und das Feuer der Zehnerschaften hinein, das sie empfing. Wie leblose Körper wurden sie hinabgeworfen. Der Jüsbaschi merkte vorerst seine Wunde gar nicht. Er staunte nur darüber, sich plötzlich ganz verlassen zu finden. Dann wurde ihm der rechte Arm schwer. Als er Blut und Schmerz fühlte, war er zufrieden, ja fast glücklich. Nun erschien ihm seine Schande und sein Schaden weit geringer. Er schleppte sich still und mit geschlossenen Augen zurück. Irgendwo zusammenfallen, hoffte er, und nichts mehr wissen.
Als der Kampflärm vom wiedereroberten Graben sich abwärts verzog, war damit auch das Signal für die Stadtmulde gegeben. Ein Feuerzeug flammte auf. Eine der petroleumgetränkten Fackeln begann knisternd zu brennen, und innerhalb der nächsten Minuten entzündeten sich an der ersten Tausende von anderen Fackeln. Die meisten Lagerbewohner waren dem Beispiel Haiks, Stephans und der übrigen Knaben gefolgt, die, in jeder Hand einen dieser Brände, sich jetzt in langer Front in Bewegung setzten. Eine solche Lichtprozession hatte diese Erde noch nicht gesehn. Jedermann, der die prasselnde Fackel vor sich hertrug, erschauerte unter der unbegreiflichen Heiligkeit, die sich in seinem Innern verbreitete. Dieses Licht war nicht mehr wie die einzelne Flamme eine Verschärfung der unendlichen Nacht, sondern als Lichtfeuer eines ganzen Volkes legte es in die Finsternis des Raumes eine glorreiche Bresche. Feierlich langsam drangen die langen Reihen und Haufen vor, als sei ihr Ziel kein Kampfort, sondern eine Stätte des Gebetes.
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