Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 158

СКАЧАТЬ mit beiden Armen um den Leib. Sie hätte mich mit in die Tiefe reißen können, aber unter keinen Umständen wäre es ihr gelungen, sich von mir loszumachen – das sichere Gefühl hatte ich.

      Bis zu diesem Augenblick war es in meinem Kopf ganz wirr gewesen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was ich zu ihr sagen sollte, aber sowie ich sie berührte, kam es wie ein Zauber über mich, und ich war im Besitz meiner natürlichen Stimme und meines Verstandes und konnte fast wieder ruhig atmen.

      »Mrs. Edson!« sage ich. »Meine Liebe! Sehen Sie sich vor. Wie konnten Sie sich bloß verirren und an einem so gefährlichen Ort wie diesen geraten? Sie müssen doch wirklich durch die verwickeltsten Straßen in ganz London hierhergekommen sein. Kein Wunder, daß Sie sich verirrt haben. Und gerade an diesem Ort! Ich dachte wahrhaftig, hier käme nie ein Mensch hin, ausgenommen ich selbst, um meine Kohlen zu bestellen, und der Major aus dem ersten Stock, um seine Zigarre zu rauchen!« – denn ich sah diesen gesegneten Mann ganz in der Nähe, wie er so tat, als rauche er.

      »Ha – Ha – Hum!« hustet der Major.

      »Und wahrhaftig«, sage ich, »da ist er!«

      »Hallo! Wer da?« sagt der Major in militärischem Ton.

      »Nun!« antwortete ich. »Das ist doch die Höhe! Kennen Sie uns nicht, Major Jackman?«

      »Hallo!« sagt der Major. »Wer ruft Jemmy Jackman an?« Und dabei war er ganz außer Atem und spielte seine Rolle weniger natürlich, als ich es erwartet hätte.

      »Hier ist Mrs. Edson, Major«, sage ich. »Sie hat einen Spaziergang gemacht, um ihren armen Kopf zu kühlen, der ihr sehr weh getan hat; sie ist dabei vom Weg abgekommen und hat sich verirrt, und Gott weiß, wohin sie noch geraten wäre, wenn ich nicht gerade des Wegs dahergekommen wäre, um in den Briefkasten meines Kohlenlieferanten eine Bestellung einzuwerfen, und Sie nicht hier herumspazierten, um Ihre Zigarre zu rauchen! – Und Sie sind wirklich nicht wohl genug, meine Liebe«, sage ich zu ihr, »um sich ohne mich auch nur halb so weit von zu Hause zu entfernen. – Und Ihr Arm wird sicherlich sehr willkommen sein, Major«, sage ich zu ihm, »ich weiß, sie darf sich, so schwer sie will, darauf lehnen.«

      Und mittlerweile hatten wir es soweit gebracht – dem Allmächtigen sei Dank! –, daß sie zwischen uns beiden dahinschritt.

      Ein kalter Schauer schüttelte sie vom Kopf bis zu den Füßen, und das Zittern hörte nicht auf, bis ich sie auf ihr Bett legte. Bis zum frühen Morgen hielt sie meine Hand fest und jammerte und jammerte: »Oh, der Elende, der Elende, der Elende!« Aber als ich schließlich so tat, als ob der Kopf mir schwer würde und ein tiefer Schlaf mich übermannte, hörte ich, wie das arme junge Weib mit so rührenden und demutsvollen Worten dem Himmel dankte, daß sie davor bewahrt geblieben sei, sich in ihrer Raserei das Leben zu nehmen, daß ich glaubte, ich müßte mir auf der Bettdecke die Augen ausweinen, und ich wußte, daß sie es nicht wieder versuchen würde.

      Da es mir gutging und ich die Ausgabe tragen konnte, schmiedete ich am folgenden Tag mit dem Major meine Pläne, während sie den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief; sobald es anging, sagte ich zu ihr:

      »Mrs. Edson, meine Liebe, als Mr. Edson mir die Miete für diese weiteren Monate bezahlte ...«

      Sie fuhr empor, und ich fühlte, wie ihre großen Augen auf mich gerichtet waren, aber ich fuhr mit meiner Rede und meiner Nadelarbeit fort.

      »... ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Quittung richtig datierte. Könnten Sie sie mir einmal zeigen?«

      Sie legte ihre eiskalte Hand auf die meine und sah mich durchbohrend an, als ich genötigt war, von meiner Nadelarbeit aufzublicken. Aber ich hatte die Vorsicht gebraucht, meine Brille aufzusetzen.

      »Ich habe keine Quittung«, sagte sie darauf.

      »Ah! Dann hat er sie«, sagte ich in gleichgültigem Ton. »Es kommt nicht darauf an. Eine Quittung ist eine Quittung.«

      Von dieser Zeit an hielt sie stets meine Hand in der ihrigen, wenn ich sie ihr reichen konnte, und das war in der Regel nur dann der Fall, wenn ich ihr vorlas. Denn natürlich hatten sie und ich viel mit der Nadel zu tun, und keine von uns beiden hatte ein besonderes Geschick für diese kleinen Wäschestückchen, obwohl ich in Anbetracht der Umstände auf meinen Anteil daran ziemlich stolz bin. Und obwohl sie auf alles achtete, was ich ihr vorlas, so schien es mir doch, daß neben der Bergpredigt es sie am meisten fesselte, wenn ich von dem sanften Mitleid unseres Herrn mit uns armen Frauen las und von seiner Jugend, und wie seine Mutter stolz auf ihn war und alle seine Reden in ihrem Herzen bewahrte. In ihren Augen lag ein dankbarer Ausdruck, der niemals bis an mein Lebensende meinem Gedächtnis entschwinden wird, und wenn ich sie zufällig ansah, so traf ich stets auf diesen dankbaren Blick. Oft bot sie mir auch ihre zitternden Lippen zum Kuß, viel mehr wie ein liebevolles Kind, dessen Herz vom Kummer halb gebrochen ist, als wie ich es mir von einem erwachsenen Menschen denken könnte.

      Einmal war das Zittern dieser armen Lippen so stark, und ihre Tränen strömten so reichlich, daß ich glaubte, sie wolle mir all ihr Leid erzählen; deshalb nahm ich ihre beiden Hände zwischen die meinen und sagte:

      »Nein, mein liebes Kind, nicht jetzt. Es ist am besten, wenn Sie jetzt nicht davon sprechen. Warten Sie auf bessere Zeiten, wenn Sie darüber hinweggekommen sind und sich wieder kräftig fühlen; dann sollen Sie mir erzählen, soviel Sie wollen. Soll das zwischen uns ausgemacht sein?«

      Während wir uns noch an den Händen hielten, nickte sie viele Male hintereinander mit dem Kopf, hob meine Hände hoch und drückte sie an Lippen und Herz.

      »Nur noch ein Wort jetzt, mein liebes Kind«, sagte ich. »Gibt es jemand?«

      Sie blickte mich fragend an.

      »Zu dem ich gehen kann?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Niemand, den ich zu Ihnen bringen kann?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      » Ich brauche niemand, meine Gute. Das ist jetzt alles vorbei und dahin.«

      Etwa eine Woche später – denn als diese Unterredung stattfand, hatte sie schon lange so dagelegen – beugte ich mich über ihr Bett mit meinem Ohr an ihren Lippen, abwechselnd auf ihren Atem lauschend und nach einem Zeichen des Lebens in ihrem Gesicht spähend. Schließlich kam dieses ersehnte Zeichen in einer feierlichen Weise – nicht wie ein Aufzucken, sondern wie eine Art blasses, schwaches Licht, das ganz allmählich das Gesicht erhellte.

      Sie sagte etwas zu mir, das keinen Laut gewann, aber ich sah, daß sie mich fragte:

      »Ist dies der Tod?«

      Worauf ich erwiderte:

      »Mein armes, liebes, gutes Kind, ich glaube, es ist so.«

      Ich wußte irgendwie, daß sie den Wunsch hatte, ihre schwache rechte Hand zu bewegen. Ich nahm sie also, legte sie ihr auf die Brust und faltete ihre Linke darüber, und sie betete ein inniges Gebet, in das ich arme alte Frau einstimmte, obwohl kein Wort gesprochen wurde. Dann brachte ich das Kindchen in den Windeln herbei und sagte:

      »Mein liebes Kind, dies ist einer kinderlosen alten Frau gesendet. Dies ist mir anvertraut.«

      Zum letzten Male streckte sich die zitternde Lippe mir entgegen, und ich küßte sie innig.

      »Ja, mein Kind«, sagte ich. СКАЧАТЬ