Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 151

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      »Der Fremde?« wiederhole ich seine Frage, in der Meinung, daß er sie meint, sich aber in seinem schwachen Zustand im Artikel vergriffen hat.

      »Doktor«, sagt er darauf, mit einem rührenden Nachdruck, der selbst einem Mannesauge eine Träne entlockt hätte, »ich bin zwar schwach, aber doch noch nicht so schwach, daß ich nicht wüßte, was ich sage. Ich wiederhole deshalb, Doktor, der Fremde.«

      Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur dann strecken durfte, wenn man ihn nicht umsonst sehen konnte (nämlich zu später Nachtzeit und gegen Tagesanbruch), in dieser selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner Wagen beobachtet hatte.

      Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt, aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war – ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch. Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht die geringste Notiz davon.

      Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden Morgen paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.

      Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge Männer untergebracht waren (einige darunter in guten Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo bleibe dann ich? Und wo bleibt alles, wofür ich Pläne gemacht und gearbeitet habe?« In der Hoffnung – ich muß gestehen, daß ich so selbstsüchtig war –, daß sie ihn nicht vorzöge, machte ich mich daran, die Wahrheit herauszufinden. Schließlich wurde ich zufällig Zeuge einer Zusammenkunft zwischen ihnen. Es war im Freien, und ich stand hinter einer Fichte verborgen, ohne daß sie von meiner Anwesenheit etwas ahnten. Es war ein rührendes Zusammentreffen für uns alle drei. Ich verstand jede Silbe, die zwischen ihnen gewechselt wurde, ebensogut wie sie selbst. Ich belauschte sie mit meinen Augen, die es gelernt hatten, eine Taubstummenunterhaltung ebenso rasch und sicher aufzufassen, wie meine Ohren gesprochene Worte verstanden. Er war im Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu einer Firma, wo früher sein Vater beschäftigt gewesen war. Sein Einkommen erlaubte es ihm, eine Frau zu ernähren, und er wollte, daß sie ihn heiraten und mit ihm gehen sollte. Sie sagte hartnäckig nein. Er fragte sie, ob sie ihn nicht liebe. Doch, sie liebe ihn von ganzem Herzen, aber sie könnte niemals ihrem geliebten, guten, edlen, großmütigen und ich weiß nicht was noch alles Vater (damit meinte sie mich, den fahrenden Hausierer in der Ärmelweste) die Enttäuschung bereiten, ihn zu verlassen, und sie wolle bei ihm bleiben, der Himmel segne ihn!, und wenn ihr das Herz darüber bräche. Hier fing sie bitterlich zu weinen an, und damit war mein Entschluß gefaßt.

      Solange ich mir über ihre Gefühle zu diesem jungen Mann im unklaren gewesen war, hatte ich eine so unvernünftige Wut auf Pickleson gehabt, daß es gut für ihn war, sein Vermächtnis gleich ausgezahlt gekriegt zu haben. Denn ich hatte oft gedacht: »Wenn dieser schwachköpfige Riese nicht gewesen wäre, so wäre es vielleicht nie dazu gekommen, daß ich mir wegen dieses jungen Mannes den Kopf zerbreche und die Seele aus dem Leib ärgere.« Aber, sobald ich einmal wußte, daß sie ihn liebte – sobald ich gesehen hatte, wie sie Tränen um ihn vergoß – da war es eine ganz andere Sache. Ich bat Pickleson auf der Stelle im Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber das Rechte zu tun.

      Inzwischen hatte sie den jungen Mann verlassen (denn es dauerte einige Minuten, bevor ich mich gänzlich zusammengenommen hatte), und er stand gegen eine andere Fichte gelehnt und hatte das Gesicht auf den Arm gepreßt. Ich berührte ihn am Rücken. Er blickte auf, und als er mich wahrnahm, sagte er in der Taubstummensprache: »Seid nicht böse.«

      »Ich bin nicht böse, guter Junge. Ich bin Euer Freund. Kommt mit mir.«

      Ich ließ ihn an den Stufen des Bibliothekswagens stehen und ging allein hinauf. Sie wischte sich die Augen.

      »Du hast geweint, mein Kind.«

      »Ja, Vater.«

      »Weshalb?«

      »Mir tut der Kopf weh.«

      »Nicht das Herz?«

      »Ich sagte der Kopf, Vater.«

      »Doktor Marigold muß für diesen Kopfschmerz ein Rezept ausstellen.«

      Sie nahm das Buch mit meinen »Rezepten« auf und hielt es mit einem gezwungenen Lächeln in die Höhe. Da sie mich aber so ernst und ruhig sah, legte sie es sacht wieder hin, und ihre Augen blickten mich mit größter Aufmerksamkeit an.

      »Das Rezept ist nicht da drin, Sophy.«

      »Wo ist es denn?«

      »Hier, mein Kind.«

      Ich führte ihren jungen Gatten herein, und ich legte ihre Hand in die seine, und die einzigen Worte, die ich noch an die beiden richten konnte, lauteten:

      »Doktor Marigolds letztes Rezept. Muß fürs ganze Leben genommen werden.«

      Darauf lief ich davon.

      Zur Hochzeit trug ich zum ersten und letzten Mal in meinem ganzen Leben einen Rock (blau mit Metallknöpfen) und ich gab Sophy mit eigener Hand hinweg. Die Gesellschaft bestand bloß aus uns dreien und dem Gentleman, unter dessen Obhut sie während der vergangenen zwei Jahre gestanden hatte. Das Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt. Taubenpastete, gepökelter Schweinebraten, ein Geflügel, dazu passendes Gemüse und das Schönste und Beste zu trinken. Ich hielt eine Rede, der Gentleman hielt eine Rede, alle unsere Späße hatten Erfolg, und das Ganze nahm seinen Gang wie eine Rakete. Während des Mahles erklärte ich Sophy, daß ich den Bibliothekswagen als meinen Wohnwagen benutzen würde, wenn ich nicht auf der Fahrt wäre, und daß ich alle Bücher für sie, so wie sie standen, aufbewahren würde, bis sie zurückkäme, um sie zu verlangen. So ging sie also mit ihrem jungen Gatten nach China, nachdem wir unter heißen Tränen bitter schweren Abschied genommen hatten; ich verschaffte dem Jungen, den ich hatte, eine andere Stelle, und nun schritt ich wie früher, als mein Kind und mein Weib gestorben waren, mit der Peitsche über der Schulter allein neben dem alten Gaul her.

      Sophy schrieb mir viele Briefe, und ich schrieb ihr viele Briefe. Gegen Ende des ersten Jahres erhielt ich einen von ihr, der mit unsicherer Hand geschrieben war:

      »Liebster Vater, vor nicht ganz einer Woche wurde mir ein süßes kleines Töchterchen geschenkt, aber ich bin so wohlauf, daß man mir gestattet hat, diese Worte an Euch zu schreiben. Liebster und bester Vater, ich hoffe, mein Kind wird nicht taubstumm sein, aber ich weiß es noch nicht.«

      In meiner Antwort bat ich in vorsichtigen Worten um baldige Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so merkte СКАЧАТЬ