Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 147

СКАЧАТЬ wieviel für die Partie, sondern wie wenig. Wie wenig denkt ihr wohl? Sprecht nur ohne Scham, weil meine Wahrsagerin es bereits weiß.« (Ich tat so, als flüsterte ich, aber ich küßte sie, und sie mich.) »Nun, sie sagt, ihr denkt an so wenig wie drei Schilling und drei Pence! Ich hätte es nicht glauben können, selbst von euch nicht, wenn sie es mir nicht gesagt hätte. Drei Schilling und drei Pence! Und gedruckte Tabellen mit dabei, die euer Einkommen bis zu vierzigtausend Pfund im Jahr berechnen! Bei einem Einkommen von vierzigtausend Pfund im Jahr geizt ihr mit drei Schilling und drei Pence. Nun, dann will ich euch meine Meinung sagen. Ich verachte die drei Pence so, daß ich lieber drei Schilling dafür nehme. Hier. Für drei Schilling, drei Schilling, drei Schilling. Zugeschlagen. Gebt sie dem glücklichen Mann dort.«

      Da überhaupt niemand geboten hatte, sah sich jedermann um und einer grinste den andern an, während ich das Gesicht meiner kleinen Sophy betastete und sie fragte, ob sie sich schwach oder schwindlig fühle.

      »Nicht sehr, Vater. Es wird bald vorüber sein.«

      Dann wandte ich mich von den hübschen, geduldigen Augen, die jetzt offen waren, ab und wieder meinen Kunden zu. Ich sah nichts als grinsende Gesichter beim Schein meiner Talgpfanne und fuhr fort, sie in meinem Stil anzureden.

      »Wo ist der Schlächtergeselle?« (Mein kummervolles Auge hatte gerade einen fetten jungen Schlächtergesellen am äußeren Rand der Menge wahrgenommen.) »Sie sagt, der Schlächtergeselle wäre der glückliche Mann. Wo ist er?«

      Die Leute stießen den errötenden Schlächtergesellen nach vorn, und es gab ein Gelächter, und der Schlächtergeselle fühlte sich verpflichtet, die Hand in die Tasche zu stecken und die Partie zu nehmen. Wenn man so einen aus der Menge heraussucht, fühlt er sich meistens verpflichtet, die Partie zu nehmen. Dann hatten wir noch eine Partie, die Wiederholung der ersten, und verkauften sie um sechs Pence billiger, was den Leuten immer großen Spaß macht. Dann kamen die Brillengläser dran. Sie sind keine besonders einträgliche Partie, aber ich setze sie auf, und ich sehe, um wieviel der Finanzminister die Steuern senken wird, und ich sehe, was der Liebste des jungen Mädels mit dem Tuch gerade zu Hause treibt, und ich sehe, was beim Bischof zu Mittag aufgetragen wird, und noch allerhand andere Sachen, die selten verfehlen, sie gut gelaunt zu machen; und je besser die Laune, desto besser die Angebote. Dann kam die Damenpartie dran – die Teekanne, die Teebüchse, die Zuckerdose aus Glas, ein halbes Dutzend Löffel und der Warmbierbecher –, und die ganze Zeit über gebrauchte ich ähnliche Vorwände, um nach meinem armen Kind zu sehen und ihm ein paar Worte zuzuflüstern. Gerade als die zweite Damenpartie das Publikum gefesselt hielt, fühlte ich, wie die Kleine sich an meiner Schulter ein wenig aufrichtete, um über die finstere Straße zu blicken.

      »Was fehlt dir, Liebling?«

      »Nichts fehlt mir, Vater. Ich fühle mich ganz ruhig. Aber sehe ich nicht dort drüben einen hübschen Friedhof?«

      »Ja, mein Kind.«

      »Küsse mich noch einmal, Vater, und lege mich dann auf das Friedhofsgras zum Schlafen hin, das so weich ist.«

      Ihr Haupt sank auf meine Schulter nieder, und ich wankte in den Karren hinein und sagte zu ihrer Mutter:

      »Rasch. Schließ die Tür! Damit es diese lachenden Leute nicht sehen!«

      »Was gibt’s?« schreit sie.

      »O Weib, Weib«, sage ich zu ihr, »du wirst meine kleine Sophy niemals wieder bei den Haaren reißen, denn sie ist von dir weggeflogen!«

      Vielleicht klangen diese Worte härter, als ich sie gemeint hatte; aber von dieser Zeit an begann mein Weib tiefsinnig zu werden. Sie konnte stundenlang mit gekreuzten Armen und die Augen auf den Boden geheftet im Karren sitzen oder neben ihm hergehen. Wenn ihre Wutanfälle kamen (und sie waren jetzt seltener als früher), so nahmen sie jetzt eine neue Form an, und sie schlug auf sich selbst los in einer Weise, daß ich sie festhalten mußte. Auch trank sie ab und zu ein wenig, was nicht dazu beitrug, daß es besser mit ihr wurde. So pflegte ich denn in den folgenden Jahren, während ich neben dem alten Gaul herschritt, Betrachtungen darüber anzustellen, ob es wohl viele Karren auf der Landstraße gäbe, die so viel Traurigkeit wie meiner enthielten, obwohl man zu mir als dem König der fahrenden Händler emporblickte. So traurig ging unser Leben weiter bis zu einem Sonnabend, als wir aus dem Westen Englands nach Exeter hineinkamen. Da sahen wir, wie eine Frau grausam auf ein Kind einschlug, während das Kind schrie: »Schlag mich nicht! O Mutter, Mutter, Mutter!« Da hielt sich mein Weib die Ohren zu und lief wie von Sinnen davon, und am nächsten Tag zog man sie aus dem Fluß.

      Ich und mein Hund waren jetzt die einzigen Bewohner, die im Karren zurückgeblieben waren. Ich brachte dem Hund bei, ein kurzes Bellen auszustoßen, wenn sie nicht bieten wollten, und noch einmal zu bellen und mit dem Kopf zu nicken, wenn ich ihn fragte:

      »Wer hat eine halbe Krone gesagt? Sind Sie der Gentleman, Sir, der eine halbe Krone geboten hat?«

      Er wurde ungeheuer beliebt, und man wird mich nicht von dem Glauben abbringen, daß er es sich ganz von selbst beibrachte, jeden in der Menge anzuknurren, der bloß sechs Pence bot. Aber er war schon sehr bejahrt, und eines Abends, als ich ganz York mit den Brillengläsern in Lachkrämpfe versetzte, verfiel er gerade auf dem Trittbrett neben mir in einen Krampf von ganz anderer Art, und das war sein Ende.

      Da ich von Natur ein zartes Gemüt habe, so fühlte ich mich jetzt schrecklich einsam. Wenn ich auf dem Trittbrett stand und verkaufte, konnte ich zwar meine Gefühle unterkriegen, denn ich hatte einen Namen aufrechtzuerhalten (ganz abgesehen davon, daß ich mich selbst zu erhalten hatte). Aber im Privatleben drückten sie mich nieder und fielen über mich her. So geht es oft mit uns Leuten der Öffentlichkeit. Wenn ihr uns auf dem Trittbrett seht, dann möchtet ihr gleich alles, was ihr habt, hingeben, um an unserer Stelle zu sein. Seht uns aber einmal an, wenn wir abgetreten sind, und ihr würdet noch eine Kleinigkeit zugeben, um von dem Handel wieder loszukommen. So war meine Stimmung, als ich mit einem Riesen Bekanntschaft machte. Ich wäre vielleicht ein bißchen zu fein dafür gewesen, um mich mit ihm zu unterhalten, wären nicht meine Einsamkeitsgefühle gewesen. Denn bei uns fahrenden Leuten ist die Scheidelinie dort, wo die Verkleidung anfängt. Wenn ein Mann sich nicht auf seine unverkleideten Fähigkeiten verlassen kann, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann sieht man ihn als auf einer tieferen Stufe stehend an. Und wenn dieser Riese auf den Brettern stand, so trat er als Römer auf.

      Er war ein junger Mann von schlaffem Wesen, was meiner Meinung nach von dem großen Abstand zwischen seinen Extremitäten herrührte. Er hatte einen Kopf von geringem Umfang und noch geringerem Inhalt; er hatte schwache Augen und schwache Knie, und man konnte sich, wenn man ihn ansah, des allgemeinen Gefühls nicht erwehren, daß sowohl für seine Gelenke wie für seinen Geist zuviel von ihm da war. Aber er war ein freundlicher, wenn auch schüchterner junger Mensch (seine Mutter vermietete ihn und gab das Geld für sich aus), und wir wurden miteinander bekannt, als er zu Fuß von einem Jahrmarkt zum anderen ging, um dem Pferd ein wenig Ruhe zu gönnen. Man nannte ihn Rinaldo di Velasco, doch sein wirklicher Name war Pickleson.

      Dieser Riese namens Pickleson vertraute mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß er sich erstens selbst zur Last wäre und daß ferner das Leben ihm zur Last gemacht würde durch die Grausamkeit seines Herrn gegen eine taubstumme Stieftochter. Ihre Mutter war tot, sie hatte keine Menschenseele, die sich ihrer annahm, und wurde schändlich behandelt. Sie reiste nur deshalb mit der Karawane seines Herrn, weil man sie nirgends lassen konnte, und dieser Riese namens Pickleson ging sogar so weit zu glauben, daß sein Herr oft den Versuch machte, sie auf dem Weg zu verlieren. Er war ein so schlaffer junger Mann, daß es unendlich lange dauerte, bis er diese Geschichte von sich gegeben hatte, aber sie gelangte doch allmählich zu seiner obersten Extremität.

      Als ich diesen Bericht von dem Riesen namens Pickleson vernahm und er mir ferner erzählte, daß das СКАЧАТЬ