Название: Die politischen Ideen
Автор: Ulrich Thiele
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: marixwissen
isbn: 9783843802420
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Weil Gesellschaft und Staat nicht identifiziert werden, sondern der Staat als bedingt taugliches Instrument gesellschaftlicher Selbsterhaltung individueller Freiheiten betrachtet wird, kann das Volk im Extremfall ein (freilich ungeschriebenes) Widerstandsrecht in Anspruch nehmen. Dieser Fall tritt laut Locke aber nicht nur dann ein, wenn die Regierung sich über die Vorgaben des Gesetzgebers hinwegsetzt und tyrannisch herrscht (ebd., XVIII, 199 ff.), sondern ebenso wenn die Legislative den Gesellschaftsvertrag verletzt. Dies geschieht insbesondere durch willkürliche Gesetzgebung, die das fundamental, sacred, and unalterabel law of self-preservation verletzt (XIII, 148), um dessentwillen die Individuen ihre ursprüngliche Freiheit aufgaben:
Das Volk ist daraufhin jeden weiteren Gehorsams entbunden und ist jener Zuflucht überlassen, die allen Menschen gemeinsam gegen Macht und Gewalt von Gott gegeben ist. Wann immer daher die Legislative dieses grundlegende Gesetz der Gesellschaft überschreiten und […] den Versuch unternehmen sollte, entweder selbst absolute Gewalt über Leben, Freiheit und Besitz des Volkes an sich zu reißen oder eine solche Gewalt in die Hände eines anderen zu legen, verwirkt sie durch einen solchen Vertrauensbruch jene Macht, die das Volk mit weit anderen Zielen in ihre Hände gegeben, und die Macht fällt zurück an das Volk. Das Volk hat dann ein Recht, zu seiner ursprünglichen Freiheit zurückzukehren und durch die Errichtung einer neuen Legislative (wie sie ihm selbst am geeignetsten erscheint) für sein eigenes Wohlergehen und seine Sicherheit zu sorgen (XIX, 222).
Mit Händen zu greifen ist hier Lockes Intuition, die Art von Gesetzen, mittels derer ein Souverän geschaffen wird, müsse von prinzipiell anderer Qualität sein, als die Gesetze, die danach von eben dieser mit der Gesetzgebung beauftragten Instanz verabschiedet werden: Die ersten Gesetze müssten eigentlich konstituierende Gesetze genannt werden und die zweiten wären entsprechend als konstituierte Gesetze zu bezeichnen. Ihr Urheber wäre im ersten Fall das Volk, dem alle konstituierende Gewalt zukäme, und im zweiten Fall das Parlament, welchem vom Volk eine konstituierte Gewalt zur stellvertretenden Ausübung übertragen wurde.
Der Sache nach kann demnach Locke (und nicht erst Sieyes) als Erfinder der Unterscheidung zwischen verfassunggebender Gewalt (pouvoir constituant) und verfasster Gewalt (pouvoir constitué) gelten, auch wenn die terminologische Differenzierung noch rund 50 Jahre auf sich warten ließ. Schon Locke kennt nämlich eine Hierarchie von Rechtsnormen und Rechtsnormsetzungsorganen. An der Basis dieser Normsetzungshierarchie können trivialerweise noch keine Staatsorgane existieren. Hier agiert allein die vorpolitische Gesellschaft von Individuen. Locke vermeidet mit dieser zweistufigen Konstruktion der Volkssouveränität die Aporien, die bislang jeder Widerstandslehre eigen waren, die ein Recht auf Rebellion postulierte: Sie konnten nicht vermeiden, neben dem faktischen Souverän noch einen potenziellen zweiten Souverän zu postulieren, der im Konfliktfall neben den regulären Herrscher träte und mit ihm rivalisierte.
Locke löst dieses Problem, indem er das Volk und nicht den von ihm beauftragten Gesetzgeber zum Eigner aller Souveränität erklärt, so dass nun eine konstituierte von einer konstituierenden Ausübung der Souveränität unterschieden werden kann. Diese zweistufige Souveränitätskonstruktion meidet die Fallstricke eines dualen Modells, das mit einem angenommenen Widerstandsrecht zugleich den Preis der Souveränitätsdiffusion zahlen musste. Bei Locke werden zwei verschiedenrangige Souveränitätsdimensionen unterstellt, die, insofern sie verschiedenen Legitimationsniveaus zugeordnet sind, nicht in Konkurrenz zueinander treten können: Wo immer und wann immer die Kompetenzen übertragende Gewalt auftritt, erlischt im selben Augenblick die Kompetenz jeder stellvertretenden Gewalt.
3.3. VERFASSUNGGEBENDE GEWALT DES VOLKES
Die terminologischen Konsequenzen, die diesem zweitstufigen Schema der Volkssouveränität eingeschrieben sind, wurden dann allerdings erst von Emmanuel Joseph Sieyes (1748–1836) gezogen. Bei diesem dritten Typ der Gesellschaftsvertragstheorie, den ich als konstituierenden Kontraktualismus bezeichnen möchte, wird die bei John Locke angedachte Zweistufigkeit der Volkssouveränität organisatorisch und prozedural ausdifferenziert. Hatte schon der Lockesche Gesellschaftsvertrag nicht nur die Funktion, einen Staat (im Sinne eines effektiven Gewaltmonopols) zu begründen, sondern ihn zugleich rechtlich zu normieren, so wird nun diese reflexive Gesetzgebung als Verfassungsgesetzgebung von der einfachen Gesetzgebung kategorial unterschieden: Der Staatsgründungsvertrag ist hier wesentlich ein die Staatsgewalt verrechtlichender Vertrag und daher notwendig ein Staatsverfassungsvertrag. Der idealtypische Vertreter dieser Art Kontraktualismus ist Emmanuel Joseph Sieyes.
Dieser interne Zusammenhang von Gesellschaftsvertrag und Verfassunggebung wird nirgends deutlicher als in einer wenig beachteten Passage aus dem Pamphlet über den Dritten Stand. Betrachtet man, um ein besonders markantes Beispiel zu nennen, das fünfte Kapitel, dann wird klar: Sieyes’ Theorie des pouvoir constituant knüpft eindeutig an die Tradition des liberalen bzw. liberaldemokratischen Gesellschaftsvertrages an. Neu ist allerdings, dass die Gesellschaftsvertragslehre zugleich in prozeduraler Hinsicht spezifiziert wird:
Sieyes’ Vertragskonstruktion unterscheidet zunächst zwei Stadien der politischen Einheitsbildung, die der Verfassunggebung vorhergehen: In der ersten Phase konstituiert sich ein gemeinsames Selbstverständnis der Individuen als eine Nation: sie haben alle Rechte einer solchen […]. Diese erste Epoche ist gekennzeichnet durch das Spiel der Einzelwillen. Sie erst schaffen die gesellschaftliche Vereinigung; sie sind der Ursprung aller öffentlichen Gewalt (Dritter Stand, 165).
Auf der zweiten (Vor-)Stufe der Verfassunggebung beschließen die associés, […] ihrer Verbindung Beständigkeit [zu] verleihen (ebd.). In dieser Phase organisiert sich der nationale Wille in Form einer außerordentlichen, zur Verfassunggebung autorisierten Repräsentation. Dieser besonderen Nationalrepräsentation werden, wie jeder Repräsentation, begrenzte Kompetenzen zur stellvertretenden Ausübung des nationalen Willens übertragen. Nach Sieyes sind allerdings für diesen konstituierenden Akt nicht so viele Vorkehrungen nötig, um Machtmissbrauch zu verhindern, wie bei einer verfassungsmäßigen Legislative erforderlich wären. Denn die außerordentlichen zur Verfassunggebung autorisierten Repräsentanten seien schließlich nur für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit abgeordnet (170). Die durch ein eigenständiges Wahlverfahren (172) auf Zeit gebildete verfassunggebende Versammlung beschließt endlich die Verfassung im Sinne von positiven Grundgesetzen, d. h. Verfassungsgesetzen, mittels derer die Organisation und die Funktionen der gesetzgebenden und der ausführenden Körperschaften festgeschrieben werden ( 167).
Sieyes entwickelt ein dreistufiges Konstituierungsschema, in dem das Volk seine Vertreter zunehmend durch prozedurale und organisatorische Rechtsnormen bindet: In der ersten Epoche hat sie [die Nation] alle Rechte einer Nation, in der zweiten übt sie sie aus, in der dritten lässt sie durch ihre Stellvertreter alles ausführen, was zur Erhaltung und Ordnung der Gemeinschaft nötig ist. Wenn man diese Aufeinanderfolge einfacher Ideen verlässt, fällt man von einer Ungereimtheit in die andere (81).
In der ersten Epoche beschließt eine Anzahl von Personen in individuellen Willensakten, sich zur Gesellschaft zu vereinigen. Diese ursprüngliche Nation ist das Gesetz selbst. Vor ihr und über ihr gibt es nur das natürliche Recht. In der zweiten Phase vergleichen sich die gesellschaftswilligen Individuen und kommen untereinander überein, СКАЧАТЬ