Название: Die politischen Ideen
Автор: Ulrich Thiele
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: marixwissen
isbn: 9783843802420
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Doch weder dessen persönliches Engagement, noch der eminente verfassungspolitische Einfluss speziell seiner frühen Schriften werden in diesem Zusammenhang erwähnt. Obwohl Hegel im Ganzen das übersteigerte Ideal der Volkssouveränität zu den Hauptursachen der instabilen französischen Verfassungsgeschichte zählte und speziell Sieyes’ Schrift über den Dritten Stand gemeinhin als das demokratische Manifest galt, das als Fanal die revolutionären Ereignisse beschleunigt, wenn nicht sogar initiiert hätte, hält sich Hegel in dieser wirkungsgeschichtlichen Frage auffällig bedeckt.
Meines Wissens erwähnte Hegel nur ein einziges Mal – und dies sehr spät – Sieyes ausdrücklich:
Bekanntlich hat Sieyes, der den großen Ruf tiefer Einsichten in die Organisation freier Verfassungen hatte, in seinem Plane, den er endlich bei dem Übergang der Direktorialverfassung in die konsularische aus seinem Portefeuille hervorziehen konnte, damit nun Frankreich in den Genuss dieses Resultates der Erfahrung und des gründlichen Nachdenkens gesetzt werde, einen Chef an die Spitze des Staats gestellt, dem der Pomp der Repräsentation nach außen und die Ernennung des obersten Staatsrats und der verantwortlichen Minister wie der weiteren untergeordneten Beamten zustände, so dass die oberste Regierungsgewalt jenem Staatsrat anvertraut werden, der Proclamateur-électeur aber keinen Anteil an derselben haben sollte (117 f.).
Hegels Bemerkung ist aufschlussreich: Auf den ersten Blick wird Sieyes’ verfassungsrechtliche Kompetenz gelobt, wenn ihm Erfahrung und gründliches Nachdenken zuerkannt werden. Doch lässt Hegel dabei auch durchblicken, dass er auch Sieyes’ Verfassungspläne für ungenügend hält, weil ihnen ein solides rechtsphilosophisches Fundament fehle. Entsprechend wird die ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Abstraktheit‘, die französische Verfassungstheorien und ihre öffentliche Diskussion kennzeichne, mit der analytischen Strenge und Systematik der deutschen Verfassungstheorie konfrontiert, die sich nicht zuletzt durch deutlich größeren politischen Realitätssinn und Praktikabilität sowie entsprechende öffentliche Akzeptanz auszeichne. Ideen, welche die Grundlagen einer reellen Freiheit ausmachen […], die in Frankreich mit vielen weiteren Abstraktionen vermengt und mit den bekannten Gewalttätigkeiten verbunden [waren], [sind] in Deutschland längst zu festen Prinzipien der inneren Überzeugung und der öffentlichen Meinung geworden […] und [haben] die wirkliche, ruhige, allmähliche, gesetzliche Umbildung jener Rechtsverhältnisse bewirkt […], so dass man hier mit den Institutionen der reellen Freiheit schon weit fortgeschritten, mit den wesentlichsten bereits fertig und in ihrem Genusse ist (121).
Nach Hegels Überzeugung ist die diskontinuierliche französische Verfassungsgeschichte einerseits aus der revolutionären ‚Verwirklichung‘ abstrakter Rechts- und Verfassungsprinzipien zu erklären, während die entsprechende Entwicklung in Deutschland, auch ohne geschriebene Verfassung, als behutsame, aber doch kontinuierliche Reform der politischen Institutionen nach Maßgabe vernunftrechtlich begründeter Prinzipien vonstatten gehe (Langer 1986, bes. 11 ff., 81 ff., 95–137). Nicht nur in den Grundlinien, sondern ebenso in anderen Vorlesungen über Rechtsphilosophie widerspricht Hegel der Auffassung, Verfassungen könnten gemacht werden (Hegel, Grundlinien, § 274, 440). Im Kontrast zum revolutionären Enthusiasmus der Franzosen und der entsprechend voluntaristischen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes plädiert Hegel für das geduldige Abwartenkönnen in der Gewissheit, dass die politische Realität ihrem rechtsphilosophischen Begriff nicht auf Dauer widersprechen kann: Eine Verfassung überhaupt, wenigstens im Occident wo subjektive Freiheit ist, bleibt nicht stehen, verändert sich immer […]. Das Bewusstsein läuft zwar der Wirklichkeit voraus, aber diese kann nicht bestehen, ist nur leere Existenz wenn sie als Äusseres nicht mit dem Geiste identisch ist (Grundlinien, § 272, 660).
Dies wirft nun ein ganz anderes Licht auf die Bemerkung zu Sieyes. Hegels insgesamt kritisches Urteil über die französische Staatsrechtsphilosophie lässt an dem, was zunächst als Würdigung der Verdienste Sieyes’ erschien, einen ironischen Hintersinn erkennen. Wer konstatiert, Sieyes hätte den Ruf tiefer Einsichten in die Organisation freier Verfassungen, der sagt damit noch nicht, ob er diesen Ruf für berechtigt hält. Wenn es zudem heißt, Sieyes habe seinen Entwurf der Konsularverfassung aus dem Portefeuille ziehen können, dann wird zumindest nahegelegt, Sieyes könnte eine ‚Verfassungskünstler‘ sein, dem die nötige Umsicht abgeht (Reformbill, 127).
Eine (allerdings mehrdeutige) Erklärung für die ungleichartige Entwicklungsrichtung der deutschen und der französischen Verfassungstheorie und -praxis seit 1789 gibt der späte Hegel selbst: [In der deutschen Philosophie] ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen […]. In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen. […] Die Franzosen sagen: Il a la tête prè du bonnet; sie haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, – die Vorstellung geht unmittelbar ins Handeln über. So haben sich die Menschen praktisch an die Wirklichkeit gewendet. So sehr die Freiheit in sich konkret ist, so wurde sie doch als unentwickelt in ihrer Abstraktion an die Wirklichkeit gewendet; und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören. Der Fanatismus der Freiheit, dem Volke an die Hand gegeben, wurde fürchterlich. In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewusstseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner (Geschichte der Philosophie, Bd. III, 314 u. 331 f.).
Natürlich will Hegel nicht bestreiten, dass Verfassungen faktisch gemacht werden können: Tatsächlich haben sich das französische Volk bzw. seine von ihm autorisierten oder selbsternannten Stellvertreter seit 1789 rund alle zwei Jahre eine neue Verfassung gegeben, während das preußische Staatsrecht noch lange Zeit seiner Kodifizierung harren musste. Wenn Hegel darauf besteht, Verfassungen könnten nicht gemacht werden, dann zielt er auf den ‚abgehobenen‘ und in diesem Sinn künstlichen Charakter von Vernunftverfassungen, die, im philosophischen Begriffslaboratorium konstruiert, der ‚rückständigen‘ Wirklichkeit abstrakte Ideale entgegenstellen. Das jedoch müsse bezogen auf die de facto geltenden Sitten zerstörerisch wirken, ohne dass aber höherstufige Sitten bereits an deren Stelle getreten wären.
Dagegen setzt Hegel, der sich in diesem Punkt durch die französischen Terror-Jahre 1793/94 bestätigt sehen kann, das Konzept einer ‚organischen‘ Verfassungsentwicklung. Diese würden dem jeweiligen Stand des Volksgeistes nicht gewaltsam übergestülpt, sondern sie entspräche ihm. Verfassungen sollten demnach keine rechtlichen Abstraktionen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit applizieren, sondern umgekehrt die innere Vernünftigkeit der gewachsenen gesellschaftlichen Sitten aufgreifen und sie, indem sie die in ihnen wirksamen Rechtsprinzipien zum Ausdruck brächten, wiederum stabilisieren. Insofern der Volksgeist nichts anderes darstelle als das aktuelle normative Selbstverständnis eines Volkes, gingen Versuche, volksgeistwidrige Vernunftverfassungen zu oktroieren in der Regel mit dem Risiko einher, den Bürgerkrieg und die schließliche Restauration des vernunftwidrigen alten Staatsrechts zu begünstigen.
Zwar bezieht Hegel eine äußerst kritische Position zu demokratischen Legitimationskonzeptionen, indem er die Machbarkeit von Verfassungen insgesamt bestreitet; auch ist sein Sieyes-Bild sicher nicht ganz frei von Verzerrungen. Doch von einer groben Fälschung kann keine Rede sein.
Bei Carl Schmitt (1888–1985) verhält es sich anders: Wer auch nur ein wenig Einblick in die Gedankenwelt des Abbé Sieyes genommen hat, den muss die Unbekümmertheit erstaunen, mit der er seine eigene Theorie der verfassunggebenden СКАЧАТЬ