Название: Die politischen Ideen
Автор: Ulrich Thiele
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: marixwissen
isbn: 9783843802420
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Die zu verabschiedende Grundverfassung enthält zwei Gruppen von Verfassungsgesetzen: Die einen dienen der Organisation der gesetzgebenden Versammlung, die anderen der der ‚ausführenden‘ Gewalten. Sieyes betont, dass diese gewaltenteilige Staatsverfassung nicht das Werk einer konstituierten, sondern der konstituierenden Macht ist.
Zwar ist der pouvoir constituant als Legitimitätsquelle des geltenden Verfassungsrechts permanent wirksam, aber er ist keineswegs permanent aktiv, sondern, so die Schrift über den Dritten Stand, nur für den außerordentlichen Fall erneut zu befragen, dass im Rahmen der geltenden Verfassung eine normale Gesetzgebung unmöglich geworden ist. Falls eine Verfassungsänderung erforderlich wäre, könnte dies legitimerweise nur dadurch geschehen, dass neue représentans extraordinaires der Nation vom Volk gewählt würden. Allein das Volk als dem letzten Ursprung aller Gesetzlichkeit könnte diese neuerliche Aktivität seines pouvoir constituant veranlassen (82).
Der Clou der Sieyesschen Argumentation besteht darin, aus der Erkenntnis der qualitativen Höherrangigkeit von Verfassungsgesetzen prozedurale Konsequenzen zu ziehen: Die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt musste von der der verfassten Gewalten strikt getrennt werden. Zwar ist nach Sieyes die Nation als pouvoir constituant frei in der Wahl ihrer (repräsentativen) Artikulationsmittel: Es wäre sowohl denkbar, dass zur Verfassunggebung andere Delegationsmodi verwendet würden als zur Verfassungsänderung, als auch, dass beide konstituierenden Befugnisse von derselben Körperschaft ausgeübt würden.
Sieyes Überlegungen bezüglich der Verfahren der Verfassungsänderung zielen darauf, dreierlei Gefahren zu bannen: Die außerordentlichen Stellvertreter erhalten jede neue Gewalt, welche die Nation ihnen zu geben beliebt. Da sich eine große Nation nicht jedesmal, wenn außerordentliche Umstände es vielleicht erfordern, wirklich selbst versammeln kann, muss sie die in solchen Fällen notwendigen Vollmachten außerordentlichen Stellvertretern anvertrauen. […] An die Stelle der Versammlung dieser Nation tritt nun die Körperschaft der außerordentlichen Stellvertreter. Sie bedarf zwar nicht einer umfassenden Vollmacht des Nationalwillens, sondern nur einer besonderen Vollmacht, und auch dies nur in seltenen Fällen; aber sie vertritt die Nation in ihrer Unabhängigkeit von allen Verfassungsformen. Hier sind nicht so viele Vorkehrungen nötig, um Machtmissbrauch zu verhindern; denn jene Stellvertreter sind nur für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit abgeordnet. Ich sage nun, dass sie nicht durch die Verfassungsformen gebunden sind, über die sie zu entscheiden haben. 1. Sonst wäre dies ein Widerspruch, denn jene Formen sind unbestimmt; die außerordentlichen Stellvertreter sollen sie ja erst festlegen. 2. In solchen Angelegenheiten, für die man feste Formen bestimmt hat, haben sie nichts zu sagen. 3. Sie vertreten die Stelle der Nation, die selbst über die Verfassung bestimmt. Sie brauchen nur zu wollen wie die Individuen im Naturzustand; auf welche Weise sie auch bestellt worden sind, wie sie sich auch versammeln und beraten, ihr gemeinschaftlicher Wille wird immer als Wille der Nation gelten, sofern nur unverkennbar feststeht (und wie sollte die Nation, die sie beauftragt, das verkennen?), dass sie aufgrund eines außerordentlichen Auftrags der Bevölkerung handeln (170).
Ausgeschlossen wird erstens eine formlose, d. h. bei Sieyes repräsentationslose Betätigung. Denn es soll der verfassunggebende Wille des empirischen und nicht des hypothetischen Volkes ermittelt werden. Zweitens sei durch die gewählten Verfahren sicherzustellen, dass es der pouvoir constituant des Volkes ist, der sich mittels seiner außerordentlichen Repräsentanten artikuliert. Deren freie Mandatierung schließt nämlich eine funktionale Begrenzung ihrer Kompetenzen sehr wohl ein. Sieyes versteht z. B. unter einer unbeschränkte[n] Vollmacht das Recht der Abgeordneten, nach bestem Vermögen für den Zweck zu arbeiten, für den man beauftragt ist, nicht aber die Vollmacht, alles zu tun (Empfehlung, 225). So dürfen beispielsweise die bereits in Kraft gesetzten positiven Verfassungsnormen nicht ohne besonderes Mandat geändert oder suspendiert werden; andernfalls könnte sich die verfassunggebende Versammlung als permanente superkompetente Diktaturgewalt etablieren, indem sie verfassungsrechtlich (bereits) normierte Kompetenzen der ordentlichen Staatsorgane beliebig aufhebt bzw. sich aneignet, ohne hierzu befugt zu sein. Drittens wird das Gewaltenteilungsprinzip auf das Verhältnis zwischen konstituierenden und konstituierten Befugnissen ausgedehnt. Die Absonderung konstituierender Repräsentationsverfahren soll verhüten, dass außerordentliche Befugnisse von regulären, verfassungsrechtlich in ihrer Funktion limitierten Repräsentanten angeeignet würden. Könnte eine in ihrer Kompetenz verfasste Gewalt die Verfassung modifizieren, geriete sie in einen performativen Selbstwiderspruch, denn sie könnte einen verfassungsrechtlich unbestimmten Gebrauch von ihrer verfassungsrechtlich wohldefinierten Kompetenz machen. Sieyes will mit der legitimationstheoretisch begründeten Lehre von der prozeduralen Zweistufigkeit der Tätigkeit der Organe der konstituierenden Volkssouveränität und der der verfassten Gewalten in erster Linie der Gefahr entgegenwirken, dass verfasste Staatsgewalten das Volk als den verfassunggebenden Souverän neutralisieren, indem sie sich faktisch die Funktion der Verfassungsänderung oder -suspendierung aneignen und damit das System der funktionalen Gewaltenteilung zerstören: [Seh]t ihr denn nicht ein, dass keiner, der bloß Partei in einem Streite ist, die Verfassung antasten darf? Eine an Verfassungsregeln gebundene Körperschaft kann nur nach ihrer Verfassung entscheiden. Eine andere Verfassung kann sie nicht geben (Dritter Stand 171).
Eine konstituierte Staatsgewalt, die sich anheischig machte, Verfassungsgesetze und damit die kodifizierte Grundlage ihrer Befugnisse eigenmächtig zu ändern, befände sich in einem performativen Selbstwiderspruch, der ihre verfassungsrechtliche Legitimität untergraben würde und der zwangsläufig über kurz oder lang in einer überverfassungsrechtlichen Diktatur der Legislative, Judikative oder Exekutive ‚aufgelöst‘ würde. Insbesondere in den Frühschriften richtet sich Sieyes’ diesbezügliches Misstrauen vorzüglich gegen die Regierung und die Verwaltungsorgane: Sehr viel mehr hat die persönliche Freiheit von den Unternehmungen der Beamten zu befürchten, denen die Ausübung irgendeines Zweiges der öffentlichen Gewalt anvertraut ist. Vereinzelte schlichte Amtsträger, ganze Körperschaften, ja selbst die Regierung in ihrer Gesamtheit können aufhören, die Rechte des Bürgers zu achten. […] Eine gute Verfassung aller öffentlichen Gewalten ist die einzige Gewähr, die die Nationen und die Bürger vor diesem äußersten Unglück bewahren kann (Einleitung, 248). Damit diese Gefahr aber gebannt werden kann, hält es Sieyes für unbedingt erforderlich, dass die positive Verfassung in gesetzlicher Form das Verfahren ihrer Revision regelt: Es gehört übrigens in das erste Kapitel eines Verfassungsentwurfs, die Mittel zur Bildung und Umbildung aller Teile einer Verfassung darzulegen (251).
Sollten an dieser Stelle noch Zweifel daran bestehen, ob die Theorie des pouvoir constituant eine Gesellschaftsvertragstheorie ist, sei noch eines erwähnt: Sieyes sieht auf allen drei Stufen der repräsentativen Ausübung der Volkssouveränität Diskurse vor, in denen sich der jeweilige Gemeinwille als Schnittmenge der Individualwillen allererst heranbildet. Auch in dieser Hinsicht steht Sieyes’ Lehre vollkommen im Einklang mit kontraktualistischen Legitimitätstheorien des politischen Liberalismus und dem dort vorausgesetzten subjekttheoretischen Individualismus: Die Willen der Einzelnen sind stets dessen [des Bürger-Ganzen] Ursprung und bilden dessen wesentliches Element (Dritter Stand, 78).
3.4. VERFASSUNGSEVOLUTION
Eine plausible Alternative zur Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) angeboten. Jede Verfassung wird als Manifestation des jeweiligen Volksgeistes aufgefasst, und zwar so, dass die Verfassung den Stand des Lernprozesses über das Wesen rechtlicher Freiheit wiederspiegelt, den ein bestimmtes Volk bislang durchlief (Hegel, Grundlinien, § 274, 440). Damit positioniert Hegel seine eigene evolutionäre Theorie des Verfassungswandels in Gegnerschaft zur Gesellschaftsvertragstheorie im Allgemeinen und zur Theorie der verfassunggebenden СКАЧАТЬ