Название: Die politischen Ideen
Автор: Ulrich Thiele
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: marixwissen
isbn: 9783843802420
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Im Groben lässt sich sagen, dass die erste und die vierte Theorievariante den Gesellschaftsvertrag (bzw. die verfassunggebende Gewalt des Volkes) als bloßes theoretisches Konstrukt betrachtet, während sie gemäß der zweiten und der dritten Konzeption eine praktische Idee ist, die normative Festlegungen enthält: Sowohl das Verfahren der Verfassunggebung als auch die Qualität des in Geltung zu setzenden Staatsrechts kann nun nicht beliebig ausfallen. Zwischen diesen gedanklichen Extremen sind selbstredend zahlreiche Zwischentypen möglich, deren Nähe zu dem einen oder anderen Idealtyp sich dann auch spezifizieren lassen sollte.
Der Philosoph, der in der Regel als Begründer der neuzeitlichen Gesellschaftsvertragslehre angesehen wird, ist Thomas Hobbes (1588–1679). Zwar zeichnet er den Naturzustand in denkbar düsteren Farben, doch lässt sich dies kaum seinem angeblichen anthropologischen Pessimismus zuschreiben, sondern ist – angesichts der heute in afrikanischen failed states herrschenden Bürgerkriege – als großes Verdienst zu werten, weil Hobbes die unausweichlichen praktischen Folgen eines Zusammenbruchs des staatlichen Gewaltmonopols in aller Konsequenz schildert.
Unter dem Naturzustand versteht Hobbes einen gesellschaftlichen Zustand, in dem es keine, alle Individuen an Macht übertreffende Zentralgewalt gibt. Insofern der Mensch naturgesetzlich dazu bestimmt ist, sich selbst zu erhalten, habe er auch das Recht, sich die Mittel für sein Überleben zu beschaffen (Hobbes, Leviathan, Kap.14, 99). Da die benötigten Güter jedoch knapp sind, wird jedes Individuum genötigt, seine Selbsterhaltung auf Kosten anderer zu betreiben. Denn er kann sein Überleben nur auf Dauer sichern, wenn er den, der ihn in seiner Existenz (jedenfalls potenziell) bedroht, unterwirft. Also hat in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles (ebd.) und also auch die Befugnis, präventiv Gewalt gegen potenzielle Feinde auszuüben, was jedoch dazu führt, dass niemandes Leben auf Dauer gesichert sein kann. Dieser Zustand, in dem sich das Leben nur durch permanente gegenseitige Aufrüstung verlängern lässt, sei der Zustand des Krieges aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) – ein Zustand, in dem es beispielsweise sinnlos wäre, einen Acker zu bestellen. Das Leben der Individuen sei unter diesen Bedingungen einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz (Leviathan, I, 14, 98).
Das Einzige was vernünftigerweise getan werden kann, um jenen Zustand permanenter Unsicherheit zu beenden, wäre die Beherzigung der Goldenen Regel: Wenn ich nicht Opfer fremder Gewalteinwirkung werden will, muss ich meinerseits auf jede Gewaltanwendung, selbst die präventiver Art, verzichten. Da jedoch jeder seine eigene Neigung […] über andere den Meister zu spielen (Kant, Rechtslehre, § 42) kennt, kann das wechselseitige Versprechen des Gewaltverzichts auf keinen Fall genügen: Die bloße Übereinstimmung oder das Übereinkommen zu einer Verbindung ohne Begründung einer gemeinsamen Macht, welche die einzelnen durch Furcht vor Strafe leitet, genügt daher nicht für die Sicherheit, welche zur Übung der natürlichen Gerechtigkeit nötig ist (Hobbes, De Cive, 5.5, 127).
Damit Leben und Eigentum jedes Einzelnen geschützt wären, können Verträge, wie sie im Privatrecht üblich sind, nicht genügen. Auch wenn sich alle gegenseitig ihrer gutmeinenden Gesinnung versichern würden, so hinderte sie im Konfliktfall doch nichts daran, erneut zur Gewalt zu greifen.
Entscheidend für das Zustandekommen und die Stabilität des Rechtszustandes sind demnach zweierlei Dinge: Erstens müssen alle einzelnen zugunsten eines Dritten auf ihre Souveränität verzichten. Zweitens muss diesem begünstigten Dritten das Monopol physischer Gewaltsamkeit übertragen werden. Der Staat ist als letzter Wolf der Einzige, dem ein Recht auf alles und auf alle zukommt (Kersting 1994, 88).
Weil der Zweck des Staates die dauerhafte Beendigung der wilden gesetzlosen Freiheit der Privatpersonen ist, muss der ihn begründende Vertrag zwei Funktionen erfüllen: Er ist einerseits ein Unterwerfungsvertrag. Alle sich zum Staat Vereinigenden müssen auf ihre ursprüngliche Freiheit verzichten ohne sich irgendwelche Rechte zu reservieren. Anderseits aber ist der Hobbessche Gesellschaftsvertrag ein Ermächtigungsvertrag. Durch ihn autorisieren die Untertanen den Herrscher nämlich auch, alle die Rechtsbefehle zu erteilen, die zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens erforderlich und geeignet sind. Sie verzichten dabei auf jedes Freiheitsgrundrecht, so dass die Souveränitätsentäußerung sowohl in zeitlicher als auch qualitativer Hinsicht unbegrenzt ist. Beispielsweise wird dem Souverän sogar das Recht übertragen, zu entscheiden welche Religion die herrschende sein soll.
Eines ist der Hobbessche Gesellschaftsvertrag demnach auf gar keinen Fall: ein Herrschaftsausübungsvertrag, durch den der faktische Souverän den normativen Vorgaben der Vertragsschließenden unterstellt würde. Stattdessen sollte man diese Art Vertrag zutreffender als Herrschaftsübertragungsvertrag bezeichnen, durch den ein Souverän geschaffen wird, der die Selbstbestimmungsrechte der Individuen absorbiert und zugleich ihr autorisierter Vertreter ist (Kersting 1992, 93). Herrscher und Beherrschte sind hier deswegen identisch, weil die Untertanen alle ihre Rechte ‚an der Staatspforte‘ abgegeben haben und solange der Souverän seine Sorge um die Sicherheit des Volkes (Hobbes, Leviathan, 30, 255) erfolgreich betreibt, kann er staatliche Hoheitsrecht in beliebiger Weise ausüben.
Entscheidend ist, dass der Hobbessche Gesellschaftsvertrag schlechterdings kein rechtsetzender Akt ist (Kersting 1992, 85). Denn durch Recht würde die Ausübung politischer Herrschaft limitiert. Weder werden Grundrechte oder Gewaltenteilung angeführt, noch wird überhaupt eine geschriebene Verfassung gefordert, so dass die Frage nach Formen, in denen Verfassungsänderungen vor sich zu gehen hätten, erübrigt. Man könnte meinen – und Carl Schmitt tendiert dazu – der Hobbessche Souverän wäre im Optimalfall gänzlich unverfasst. Denn nur in einer ‚lebendigen Verfassung‘ ließe sich der Zweck der Staatssouveränität, die gesicherte Selbsterhaltung der Bürger, optimal erreichen. Der einzige Zweck, zu dessen Erfüllung sich die Individuen einem Menschen oder einer Versammlung […] unterwerfen, ist aber ihre gesicherte Selbsterhaltung (Hobbes, De Cive, 5, 6, 128). Ausschließlich deswegen legen die Menschen wechselseitig ihre Waffen nieder, und stellen sich gemeinsam unter den Schutz des staatlichen Gewaltmonopolisten.
Versagt jedoch der Staat (z. B. durch den Zerfall einer Dynastie in Bürgerkriegsparteien) in dieser ordnungspolitischen Funktion, dann treten die Individuen unmittelbar in den Zustand ursprünglicher Freiheit zurück, in dem jeder ein Recht auf alles und alle (ius in omnia et omnes) hat. Wenn nämlich der Staat seinen Zweck der Friedenssicherung nicht mehr erfüllen kann, dann ist genau der Zustand eingetreten, um dessen Überwindung willen der Gesellschaftsvertrag geschlossen worden war: der Bürgerkrieg: Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden. Die Souveränität ist die Seele des Staates, von der die Glieder keinen Bewegungstrieb empfangen können, wenn sie einmal den Körper verlassen hat. Der Zweck des Gehorsams ist Schutz (Leviathan, II, 21, 171).
Solange der Herrscher den Zweck des politischen Zusammenschlusses, den innerstaatlichen Rechtsfrieden, allerdings erreicht, bleibt der Gesellschaftsvertrag uneingeschränkt in Kraft. In dieser zentralen Friedenstiftungsfunktion sieht Hobbes den Souverän allerdings als Stellvertreter des Volkes an, der von diesem beauftragt wurde. Nirgends wird Hobbes’ Nähe zur ‚demokratischen Gesellschaftsvertragslehre‘ augenscheinlicher als in folgender Passage: [Was die bürgerlichen Freiheiten betrifft], so hängen sie vom Schweigen des Gesetzes ab. In den Fällen, wo der Souverän keine Regel vorgeschrieben hat, besitzt der Untertan die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu handeln oder es zu unterlassen. Und deshalb ist die Freiheit mancherorts und zu manchen Zeiten größer oder geringer, je nachdem es die Inhaber der Souveränität für am zweckmäßigsten halten […]. Verfolgt nämlich der Souverän seine Forderung auf Grund СКАЧАТЬ