Название: Alle guten Geister…
Автор: Anna Schieber
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066112202
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„Da seid ihr denn nun,“ sagte Frau Judith und öffnete ihre Stubentür, daß das helle Licht des Wintertags in breitem Strom aus der lichten Stube auf die dunkle Treppe floß. „Da seid ihr denn wieder einmal heraufgekrabbelt, und wißt ihr auch, wie lang es her ist, seit ihr das letzte Mal hier oben waret? Ganze sechs Wochen ist es her und seither war so viel zu sehen von meinen Fenstern aus, und das ist nun alles vorbei und kommt nicht mehr. Nun mögt ihr hinaussehen, so viel ihr wollt, es ist nur Schnee zu sehen, sonst nichts.“ „Ach, gar,“ sagte Gertrud und lachte ein bißchen unsicher, „laß mal sehen, Frau Judith, es muß doch sonst noch was da sein,“ und sie zog ihren Kameraden, der mit großen, erschrockenen Augen dastand, mit ans Fenster. „Siehst du, du mußts ihr auch nicht immer gleich glauben, Georg,“ rief sie in ausbrechendem Jubel, „da sind alle Häuser und Gassen und der Himmel, und die Raben auf den Bäumen! O, o, Frau Judith, der Großvater sagt’s auch immer, daß man dir nicht alles glauben soll. Und jetzt sagst du gleich, was alles noch zu sehen war, so lang wir nicht hier waren. Komm, Lore, setz’ dich nur hier auf den Schemel und nimm deine Mütze herunter, denn jetzt erzählt Frau Judith so lang fort, daß mans gar nicht sagen kann.“
„So meinst du?“ Frau Judith stand an der Krücke in der Mitte der Stube und ihr breites Gesicht glänzte vor unsäglichem Vergnügen. Sie versuchte vergeblich, zu tun, als ob sie heut nichts wüßte; Georg sah so flehentlich drein und nahm die kleinste Weigerung so ernst, daß ihr das Herz zerschmolz. Und Gertrud pflanzte sich kriegerisch vor ihr auf und ihr ehrliches, rundes Kindergesicht flammte. „So, nun setz’ dich einmal in deinen Stuhl und fang’ an,“ sagte sie. „Du kannst sagen, von was du willst, es wird doch eine Geschichte draus. Und mein Großvater kommt auch nächstens, das hat er noch extra heut morgen gesagt, und dann will er mit dir eine Reise machen, ins Jugendland, hat er gesagt und du wissest schon, wo es liege. Aber das ist ja auch bloß Spaß, du kannst ja gar nicht verreisen. So, jetzt fang an.“
Lore saß ganz still. Die beiden andern waren hier so zu Hause, das konnte sie wohl sehen, sie aber fühlte sich fremd und scheu in ihrem Putz und ihrer ganzen Art. Die Mutter hatte sie heut früh vor den Spiegel gestellt. „Herzig siehst du aus,“ hatte sie gesagt, und noch anderes. Von der Zukunft, und daß Schönheit ein Reichtum sei. Jetzt hätte sie gern den Staatsmantel ausgezogen, wenn nicht darunter ein zerrissenes Werktagskleidchen gewesen wäre.
Da strich ihr plötzlich eine große, weiche Hand sacht und leise über das Haar. Sie duckte sich wie ein Vögelchen unter der ungewohnten Berührung. „Ich kenn’ dich schon, du Kleines,“ sagte Frau Judith. „Bist noch nie bei mir gewesen, gelt. Aber ich kenn’ dich doch. Ich tu’ dir nichts, mußt dich nicht so ducken.“ Und Georg und Gertrud nickten ihr zu: „Sie tut dir nichts, natürlich nicht; mußt dich nicht so ducken,“ sagten ihre Gesichter. Da fing sie plötzlich an zu lachen, und lachte und lachte, und hielt sich die Hände vors Gesicht und die Locken fielen ihr drüber her. Und kein Mensch wußte, warum sie lachte, und sie fragten und fragten, und lachten endlich mit und wußten auch nicht, warum, und als Frau Judith ihr die Hände vom Gesicht zog, da waren sie naß, über und über.
„Behüt uns,“ sagte Frau Judith leise, und dann fing sie an, zu erzählen, was sie von ihrem Fenster aus gesehen habe all’ die Zeit daher.
Sie kam nie mehr hinunter, seit sie ein hölzernes Bein und eine Krücke hatte, das war schon 10 Jahre her. Meister Nössel war ihr Bruder. Er hatte sie sich da herauf geholt, nachdem man ihr im Krankenhaus das Bein abgenommen hatte. „Und das ist ein solches Stück Arbeit gewesen,“ sagte sie und meinte nicht ihr Unglück, sondern die Reise auf den Turm, daß ich nun hier oben bleibe, bis mich einmal die schwarzen Männer holen. Es sei denn, fügte sie hinzu, „der Turm falle vorher ein, was aber nicht wahrscheinlich ist. Da käme ich dann freilich schneller hinunter als ein Vogel fliegt.“ Sie war in diesen Jahren und bei der sitzenden Lebensweise ungeheuer in die Dicke und Breite gegangen und es war ein gruselig machender Genuß, sich auszudenken, wie das alles vor sich ging. Es war alles, wie im Märchen; man konnte nie wissen, was mit Frau Judith geschah und mit dem Meister Nössel und mit dem ganzen Turm. Unten auf ebener Erde, da ging alles seinen nüchternen Gang. Aber hier oben, es war nicht auszusagen, was man hier oben alles erleben konnte. „Ja,“ sagte Frau Judith, „und darum möchte ich auch nicht für Geld und einen neuen Fuß wieder in die Unruhe da hinunter, wo man nicht weiter sieht, als bis an die nächste Mauer. Wenn man nun zehn Jahre hinter einander hat am heiligen Abend die Christbäume im Himmel brennen sehen. Ja, im Himmel, und das ist sicher, denn von hier aus sieht man mitten hinein, wenn man rechte Augen hat und die Zeit nicht verpaßt, wo er offen ist.“
Daran war nicht zu zweifeln. Und wenn auch Gertrud hie und da den klugen Kopf schüttelte, im Grunde glaubte sie es doch. Um es recht zu sagen: es war wie im Märchen vom unsichtbaren Königreich. Die Königin ging an Krücken und kochte mühselig in irdenen Töpfen im Ofen, und der König war ein zusammengesessenes Männlein und flickte den Leuten die Hosen. Und die meisten Leute wußten nicht, daß sie ein Land hatten und ein Reich. Aber das tat nichts zur Sache. Das konnten die Leute halten, wie sie wollten. Man konnte daran nur sehen, daß sie nicht desselben Landes waren. Die beiden wußten es selber und das war die Hauptsache. Der Rektor Cabisius wußte es auch, und seine Frau, und der alte Korbmacher Hollermann. Und die Kinder, die fast am besten, obgleich sie keinen Namen dafür hatten.
Da saß denn die Frau Judith Tag für Tag an ihrem Fenster und nähte. Und dann kam die Sonne herauf und lachte, übers ganze Gesicht, zu ihr herein, und dasselbe tat Frau Judith, zu ihr hinaus. Und die Spatzen kamen, die ihr Nest an der Dachrinne hatten, und die Schwalben strichen hin und her und schwatzten von ihren Erlebnissen, und im Winter, wenn sie fort waren, hockten doch die Raben flügelschlagend auf dem Dach und holten sich mit Geschrei die Brocken, die ihnen Frau Judith zuwarf. Zuweilen kam eine große, schwarze Katze und guckte mit blanken, grünen Augen ins Fenster und machte einen Buckel und stellte den Schwanz in die Höhe. Und alle diese Geschöpfe wußten so viel zu erzählen, von den Leuten im Städtlein unten weniger, aber sonst eine ganze Menge wunderbarer Sachen, und das taten sie sonst niemanden, als nur der Frau Judith und etwa, der Verwandtschaft halber, ihrem Bruder; und daran „konnte man es mit Pelzhandschuhen greifen“, wie der Rektor Cabisius sagte, „daß etwas Besonderes an ihnen sei.“ Am Abend war es noch viel wunderbarer. Da kam der Mond und füllte die Stube bis in den letzten Winkel mit seinem Licht, „und,“ sagte Frau Judith, „wenn wir noch eine zweite hätten, dann bekämen wir die auch noch voll, aber wir haben nur die eine, und das ist gerade gut, denn dann haben wir alles näher beieinander.“ (Es war fast alles „gerade gut“, und das sei das königlichste an der Frau Judith, sagte ihr alter Freund, der Rektor, und da er sie so genau kannte, so mußte er es ja auch wissen.)
Da glänzte dann die ganze Gegend in einem silbernen Schimmer, das ganze Tal war wie ein leise wallendes Meer von geheimnisvollen, verhaltenen Lichtfluten; das Städtlein und die Wiesen und Berge und Wälder, alles ruhte auf dem klaren Grund und die Flut ging hoch darüber hin. „Und da ist es denn, als sollte man mitschwimmen,“ sagte Frau Judith zu den Kindern, „zum Fenster hinaus und ganz weich und sachte durch die Luft, nicht fliegen, schwimmen. Aber seht ihr, ich bin zu schwer dazu, das ist der einzige Grund, warum ich’s nicht tue. Aber das kommt noch.“ Und die Kinder horchten, mit großen Augen sahen sie in Frau Judiths Gesicht. Ja, die war freilich anders, als andere Leute. Man konnte nie wissen, was mit ihr noch geschehe. Sie wußten auch wohl, daß oben, ganz weit oben über den Wolken der liebe Gott sitze und, Meister Nössel hatte es gesagt, direkt durch die Fenster hier in die Stube sehe, da man sich denn freilich wohl in acht nehmen müsse, СКАЧАТЬ