Название: Die Seele Chinas
Автор: Richard Wilhelm
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Kleine historische Reihe
isbn: 9783843800495
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Seine erste Revolution war eine literarische. Man hatte in den letzten Jahrhunderten sich bemüht, die alten heiligen Schriften kritisch zu sichten. Die Überlieferung besagte, dass Konfuzius diese Schriften, die dem höchsten Altertum entstammen, geordnet und herausgegeben habe als heiliges Erbe für die Zukunft. Bei den genannten Untersuchungen war man immer weiter gekommen in der Kritik. Man fand spätere Zusätze und Fälschungen, die man zunächst damit erklärte, dass durch die Bücherverbrennung des Ts’in Schï Huang Ti die ganze konfuzianische Literatur im Wesentlichen zugrunde gegangen und später erst wieder kümmerlich zusammengestellt worden sei, wobei es denn nicht fehlen konnte, dass die kaiserlichen Belohnungen, die auf das Auffinden alter Schriften gesetzt waren, auch solche Schriften ans Licht brachten, die eigens zu diesem Zweck hergestellt und künstlich alt gemacht worden waren. Diese Fälschungen galt es zu entdecken und auszusondern. K’ang Yu We wagte die Aufsehen erregende Behauptung, dass die ganzen Texte, die unter dem Namen »alte Texte« gingen, weil sie in der Hanzeit (etwa um die Wende unserer Zeitrechnung) auftauchten, bewusste Fälschungen seien, dass durch die Bücherverbrennung des Ts’in Schï Huang Ti die konfuzianischen Schriften gar nicht vernichtet worden seien und dass der Zweck der Fälschungen gewesen sei, dem Usurpator Wang Mang auf den Thron zu verhelfen. Noch hatte sich die Aufregung in der chinesischen Gelehrtenwelt über diese Lösung des gordischen Knotens nicht gelegt, da erschien ein neues Buch, das noch umstürzlerischer wirkte: »Die Reform des Konfuzius«. Darin wird versucht zu zeigen, dass die alten Schriften von Konfuzius nicht etwa überliefert und redigiert seien, sondern dass er sie alle selbstständig verfasst habe, um seinen für die damalige Zeit revolutionären Lehren einen historischen Hintergrund zu verleihen. Ob jene Heroen der alten Zeit gelebt haben oder nicht, das könne man nicht wissen. Jedenfalls seien die Überlieferungen, die durch Konfuzius auf uns gekommen sind, freie Erfindungen des Meisters. Er habe sich seine Heroen Yao und Schun ebenso geschaffen, wie Laotse den Huangti, Moti den großen Yü, Hsü Hsing den Schen Nung und wie alle Philosophen der damaligen Zeit ihre Vorbilder in die Vergangenheit projizierten. Aus dem antiquarischen Gelehrten, als den viele Konfuzius anzusehen gewohnt waren, wurde nun ein kühner Neuerer, der mit genialer Schöpferkraft eine Kultur für die Jahrtausende schuf. Die Gestalt gewann eine wunderbare mystische Tiefe. Rätselhaft blickte er aus dem Geheimnis hervor, das er mit kluger Hand um sich gewoben, und nicht mehr nur als ein Weiser der Vorzeit verdiente er Verehrung, sondern als göttlicher Heiland verdiente er Anbetung, wie Jesus sie von den Seinen erhielt. K’ang Yu We war von da ab bestrebt, eine konfuzianische Kirche zu gründen nach der Art der christlichen. Damit hat er freilich kein Glück gehabt. Die konfuzianische Kirche in Peking, von der später noch die Rede sein wird, bietet heute einen ziemlich traurigen Anblick.
Trotz seiner Verehrung für Konfuzius hat K’ang Yu We durch diese Arbeit, die noch aufregender wirkte als die erste, die in ihrer ganzen Auflage von der Kaiserin-Witwe vernichtet worden war, den Heiligen aus seiner einzigartigen Stellung herausgelöst und ihn gewissermaßen in Parallele gebracht zu den anderen bedeutenden Männern seiner Zeit, die ja auch alle sich irgendwie eine Vergangenheit zurechtgemacht hatten. Er hat damit den Weg eröffnet, der alten Geschichte viel unabhängiger und objektiver gegenüberzutreten als dies bisher in Jahrtausenden der Fall gewesen war, K’ang Yu We selbst war freilich von jeder Objektivität sehr fern. Er war eine sehr eigenwillige Natur. Das zeigt sich nicht nur in seinem Verhältnis zur alten Literatur und ihren Quellen, sondern auch in seinem Benehmen zu lebenden Menschen, namentlich zu seinen Schülern, von denen er sich viele entfremdet hat. Er könnte heute der unumstrittene Führer Jung-Chinas sein, wenn er sich nicht auf allerlei Eigenheiten verbissen hätte.
Am revolutionärsten ist sein drittes Werk, in dem er dazu übergeht, selbstständige Theorien für die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft aufzustellen. Dieses Werk »Das Buch von der großen Gemeinsamkeit« ist freilich nur in wenigen als Manuskript gedruckten Exemplaren verbreitet, weil er der Überzeugung ist, dass seine Zeit noch nicht gekommen sei. Er geht darin zurück auf eine Stelle im alten Buch der Sitten, wo eine dreifache Menschheitszeit in Aussicht genommen ist: Eine Zeit der Unordnung, eine Zeit der kleinen Kräftigung und eine Zeit der großen Gemeinsamkeit. Die Grundsätze für die Zeit der großen Gemeinsamkeit führt er in seinem Buch aus. Es ist nicht nur als Utopie gedacht, sondern als ganz ernsthafte Grundlage für die künftige Gestaltung der menschlichen Gesellschaft. Die Hauptgedanken dieses Werkes sind:
1. Abschaffung des Staats. Die ganze Welt hat eine gemeinsame Regierung, die sich in einzelne Unterabteilungen nach Nationen gliedert.
2. Die Gesamtregierung und die Unterregierungen werden vom Volk gewählt.
3. Abschaffung der Familie. Mann und Frau leben nicht länger als ein Jahr zusammen. Nach Ablauf der Zeit findet Wechsel statt.
4. Frauen, die schwanger sind, gehen in eine Mutterschaftsschule; die Neugeborenen kommen in ein Säuglingsheim.
5. Die Kinder kommen ihrem Alter entsprechend in Kindergärten, später in die Schule.
6. Die Erwachsenen erhalten von der Regierung das Gebiet ihrer Berufstätigkeit zugewiesen.
7. Für die Kranken sind Krankenhäuser, für die Alten Altersheime da.
8. Die Mutterschaftsschulen, Säuglingsheime, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altersheime sind alle sorgfältig ausgestattet, so dass die Insassen sich wirklich wohl darin fühlen.
9. Erwachsene Männer und Frauen müssen dem jetzigen Militärdienst entsprechend an diesen Anstalten eine bestimmte Anzahl von Dienstjahren verbringen.
10. Wohnungen und Speiseräume sind öffentlich. Jedem bleibt die freie Verfügung über den Ertrag seiner Arbeit.
11. Alle Faulheit wird durch strenge Strafen verhindert.
12. Förderer der Wissenschaft und solche, die in den öffentlichen Anstalten besondere Dienste geleistet, werden besonders ausgezeichnet.
13. Die Toten werden verbrannt. Neben den Verbrennungsanstalten befinden sich die Fabriken für Kunstdünger.
Man muss bedenken, dass diese Gedanken, die sicher so radikal sind, dass sie nichts zu wünschen übrig lassen, durchaus selbstständig gefunden sind. Sie liegen dreißig Jahre zurück und sind in einer Zeit gedacht, da K’ang Yu We noch keinerlei Fühlung mit sozialistischen und kommunistischen Ideen im Westen haben konnte. Das Zentrum seines Systems liegt in der Abschaffung der Familie, wodurch der Buddhismus, der sich durch Flucht aus der Familie den Bitternissen des Lebens entziehen will, ganz von selbst überflüssig wird, ebenso wie aller Streit und Kampf um das Eigentum ganz von selbst gegenstandslos wird, wenn eine Vererbung des Eigentums nicht mehr möglich ist. Dass in dem System einige Härten sich finden, entspricht ganz dem Feuerkopf, der es erdacht hat.
Freilich, eine Sache ist sehr merkwürdig: Er hat diese Gesellschaftsordnung fix und fertig ausgedacht, aber er hat sie immer geheim gehalten. Nur ausgewählten Schülern gewährte er Zugang zu diesen Lehren, und wenn sie begeistert an ihre Verwirklichung gehen wollten, hielt er sie zurück. Er hat, auch als er die Macht in Händen hatte, nie versucht, die Gedanken in Wirklichkeit umzusetzen, da er der Überzeugung war, dass man zunächst über die Methoden der »kleinen Kräftigung« noch nicht hinausgehen dürfe. So ist СКАЧАТЬ