Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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Seine Mitspieler waren der schwermütige Herausgeber einer bekannten Zeitschrift, ein schweigsamer alter Rechtsanwalt mit listigen kleinen Augen und ein äußerst kriegerischer, geradsinniger alter Oberst mit unruhigen, braunen Händen. Diese Drei waren lediglich Klubbekannte. Er traf sie nirgends sonst als am Spieltisch. Sie alle aber schienen sich am Spieltisch als Leidensgefährten zu fühlen, als suchten sie ein Gegenmittel gegen geheime Leiden, und täglich, wenn die Sonne sich auf die zahllosen Dächer der Stadt senkte, empfand er eine weiche, warme Ungeduld, die ihm wie das Gefühl einer warmen, sicheren Freundschaft die Berufsarbeit erleichterte. Jetzt aber verließ ihn diese erfreuliche Empfindung mit einem Schlag, und an ihre Stelle trat eine plötzliche, verstärkte Anteilnahme an seiner beruflichen Aufgabe – dem Schutz der Gesellschaft – eine nicht durchaus geziemende Anteilnahme, die am besten vielleicht als ein jähes und unvermitteltes Mißtrauen gegen die Waffe in seiner Hand zu bezeichnen war.
VI
Die Gönnerin von Michaelis, dem Bewährungsfristapostel, der eine rosige Zukunft für die Menschheit predigte, war eine der einflußreichsten und hervorragendsten Bekannten der Gattin des Kommissars; sie nannte sie Annie und behandelte sie immer noch als ein nicht sehr gescheites und völlig unerfahrenes kleines Mädchen. Immerhin hatte sie sich bereitgefunden, den Kommissar selbst freundlich aufzunehmen, was ihm durchaus nicht bei allen einflußreichen Bekannten seiner Frau geschehen war. Sie hatte vor langer Zeit, in ihrer ersten Jugend, eine glänzende Ehe geschlossen und so vorübergehend genauen Einblick in die hohe Politik gewonnen und einige große Leute kennen gelernt. Sie selbst war eine große Dame. Nun war sie den Jahren nach alt, gehörte aber zu den Ausnahmemenschen, welche die Zeit völlig mißachten wie eine Scheingröße, der sich nur die Menge der Niedriggeborenen nach törichtem Herkommen beugt. Doch ach! auch so manches andere Herkommen, das noch leichter zu mißachten war, fand ihre Anerkennung nicht, gleichfalls aus Gründen des Temperaments – sei es, daß es sie langweilte, oder daß es sich ihren Zu-und Abneigungen in den Weg stellte. Das Gefühl der Bewunderung war ihr unbekannt (und das war einer der Anlässe zu geheimem Kummer für ihren hochadeligen Gemahl), erstens einmal, weil es immer mehr oder weniger auf Durchschnitt deutet, und dann, weil es das Zugeständnis von Unterlegenheit enthält, was beides ihrer Natur völlig fern lag. Eine furchtlose, freimütige Sprache kam ihr leicht an, da sie lediglich von der Höhe ihrer gesellschaftlichen Stellung herab urteilte. Gleich hemmungslos war sie in ihren Handlungen; und da ihr Taktgefühl aus echter Menschlichkeit kam, ihre körperliche Rüstigkeit erstaunlich unverändert blieb und ihre Überlegenheit heiter und herzlich, so hatten sie drei Generationen unendlich bewundert, und die letzte, die sie nach menschlichem Ermessen miterleben sollte, nannte sie eine wundervolle Frau. Sie war klug, mit einem Einschlag schöner Einfalt, von Herzen neugierig, aber nicht, wie so viele Frauen, nur nach leerem Klatsch; so schuf sie sich in ihrem Alter den Zeitvertreib, durch die Macht ihres großen, fast historischen gesellschaftlichen Ansehens alles um sich zu sammeln, was irgendwie über den öden Durchschnitt sich erhob, gesetzmäßig oder nicht, durch Stellung, Witz, Kühnheit, Glück oder Unglück. Königliche Hoheiten, Künstler, Männer der Wissenschaft, junge Staatsmänner und Scharlatane jeder Art und jeden Alters, die wesenlos und unbeschwert wie Korke an die Oberfläche drängen und am besten die Richtung der Zeitströmung anzeigen – alle diese hatte sie in ihrem Hause empfangen, angehört, durchforscht, verstanden, eingeschätzt, zu ihrer eigenen Erbauung. Mit ihren eigenen Worten: sie liebte es, zu sehen, wohin die Welt trieb. Und bei ihrem starken Wirklichkeitssinn war ihr Urteil über Männer und Dinge, wenn auch auf besonderer Voreingenommenheit fußend, selten ganz falsch und nie verschroben. Ihr Salon war wohl der einzige Platz in der weiten Welt, wo ein Polizeikommissar mit einem auf Bewährungsfrist entlassenen Sträfling anders als beruflich und amtlich zusammentreffen konnte. Der Kommissar erinnerte sich nicht mehr genau daran, wer Michaelis eines Nachmittags mitgebracht hatte. Es war wohl ein gewisses Parlamentsmitglied gewesen, das trotz hochmögender Verwandtschaft oft außergewöhnliche Sympathien zeigte und damit zur stehenden Figur in den Witzblättern geworden war. Die wirklichen und die Scheinhelden des Tages führten einer den andern unbekümmert in diesen Tempel ein, den die alte Frau ihrer durchaus nicht kleinlichen Neugier errichtet hatte. Ein Wandschirm aus blauer Seide in Goldleisten teilte von dem großen Empfangsraum, wo sich im Lichte der besonders hohen Fenster stehende und sitzende Gruppen summend unterhielten, eine lauschige Ecke ab, die nur den Vertrautesten zugänglich war; wurde man dort vorgelassen, so konnte man nie wissen, wen man antreffen würde.
Michaelis war der Gegenstand eines Umschwungs der öffentlichen Meinung gewesen. Derselben Meinung, die vor Jahren das harte Todesurteil bejubelt hatte, das wegen seiner Mittäterschaft an einer tollkühnen Gefangenenbefreiung gegen ihn ergangen war. Der Plan der Verschwörer war es gewesen, die Pferde des Polizeitransportwagens niederzuschießen und die Bemannung zu überwältigen. Dabei wurde unglückseligerweise auch ein Polizeiwachtmeister erschossen. Er hinterließ eine Frau und drei kleine Kinder; und der Tod dieses Mannes verursachte im ganzen Reich, für dessen Verteidigung, Wohlfahrt und Ruhm täglich Männer in einfacher Pflichterfüllung starben, einen Ausbruch tiefster Entrüstung und wütenden, rachedurstigen Mitleids mit dem Opfer. Der Rädelsführer wurde gehängt. Michaelis, jung und unbedeutend, Schlosser von Beruf und ein eifriger Besucher der Abendschule, wußte nicht einmal, daß irgend jemand getötet worden war; seine Aufgabe war es gewesen, zusammen mit ein paar anderen die hintere Tür des Transportwagens aufzusprengen. Bei seiner Verhaftung hatte er ein Bündel Dietriche in der einen Tasche, einen schweren Meißel in der anderen und ein kurzes Brecheisen in der Hand: nicht mehr oder weniger als ein Einbrecher. Doch gegen einen Einbrecher wäre niemals ein so hartes Urteil ergangen. Der Tod des Schutzmanns war ihm zu Herzen gegangen, nicht weniger aber der Fehlschlag der Verschwörung. Aus keinem dieser Gefühle hatte er vor den Geschworenen ein Hehl gemacht, und diese unvollkommene Reue hatte im überfüllten Gerichtssaal den schlechtesten Eindruck hervorgerufen. Bei der Verkündigung des Urteils fand der Richter zu Herzen gehende Worte über die Verderbtheit und Verhärtung des jungen Gefangenen. So wurde von seiner Verurteilung viel Aufhebens gemacht, ohne besseren Grund als später von seiner Entlassung; im letzteren Fall durch Leute, die seine Einkerkerung gefühlsmäßig auszuschroten wünschten, sei es, um ihre eigenen Zwecke zu fördern oder ohne erkennbaren Zweck. Er ließ sie, in seiner Unschuld und Herzenseinfalt, alle gewähren. Nichts, was ihm persönlich geschah, hatte irgendwelche Bedeutung. Er war wie jene Heiligen, die über gläubigen Betrachtungen ihre Persönlichkeit vergessen. Seine Gedanken bewegten sich nicht nach der Seite der Überzeugungen; sie waren für Vernunftgründe unzugänglich, formten mit all ihren Widersprüchen und Unverständlichkeiten den unbesieglichen Glauben an die Menschheit, den er mehr bekannte als predigte, mit milder Hartnäckigkeit, ein Lächeln gläubiger Zuversicht auf den Lippen, und die klaren blauen Augen niedergeschlagen; denn der Anblick vieler Gesichter störte seine Begeisterung, die in Einsamkeit groß geworden war. Der Kommissar stellte sich den Bewährungsfristapostel vor, wie er in dem abgetrennten Winkel auf einem der Ehrenplätze saß, in dieser ihm eigenen Haltung, mitleiderregend in seiner grotesken und unheilbaren Fettleibigkeit, die er bis ans Ende seiner Tage mitzuschleppen haben würde, wie ein Galeerensklave die Eisenkugel. Er saß dort zu Häupten des Ruhebettes der alten Dame, seine milde Stimme und Gemütsruhe verrieten nicht mehr Selbstbewußtsein, als es ein kleines Kind haben könnte; auch fehlte ihm nicht ein gewisser kindlicher Reiz, der bezaubernde Reiz der Gläubigkeit. Da er der Zukunft vertraute, deren geheime Wege ihm innerhalb der vier Wände einer bekannten Strafanstalt geoffenbart worden waren, so hatte er keinen Anlaß, irgend jemandem mit Mißtrauen zu begegnen. Wenn es ihm auch nicht gelungen war, der neugierigen großen Dame einen recht klaren Begriff des Ziels beizubringen, dem die Welt zutrieb, so hatte er ihr doch ohne weiters Eindruck gemacht durch seinen Glauben, dem jede Bitterkeit fehlte, und durch seine starke Hoffnungsfreude.
Reinen Seelen an den beiden Enden der gesellschaftlichen Stufenleiter ist eine gewisse Schlichtheit der Denkweise gemeinsam. Die große Dame war schlicht auf ihre besondere Art. Seine Ansichten und sein Glaube СКАЧАТЬ