Название: Wachtmeister Studer
Автор: Friedrich C. Glauser
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962816315
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Und die Häuser waren nicht stumm…
Es war Samstagnachmittag.
Durch die Mauern, durch die geschlossenen Fenster und durch die geöffneten jodelte das Gritli Wenger –
Es jodelte den Sonntag ein…
Noch einer, der nicht mehr mitmachen will
Der Speck war zäh und der Suurchabis schwamm in allzu viel Flüssigem. Die Gaststube war leer. Am Ausschank polierte die Kellnerin Weingläser. Es hatte endgültig aufgehört zu regnen, aber der Himmel war mit einer weißen Schicht überzogen, die blendete.
Studer spürte ein unangenehmes Beißen in der Nase: es war wohl ein Schnupfen, der sich meldete. Kein Wunder, wenn der Mai so kalt war. Er kostete den Kaffee. Der war ebenso dünn und lau wie derjenige seiner Frau, wenn sie nächtelang gelesen hatte. Studer schüttete den Kirsch in die Brühe, verlangte noch einen und begann dann die Gerzensteiner Nachrichten zu studieren. Seine Stimmung wurde langsam besser, er lehnte sich in die Ecke zurück und rollte mit den Schultern, bis sie bequem der Wand anlagen.
Da betrat ein junger Mann die Gaststube. Zuerst schnitt die Kellnerin mit einer brüsken Handbewegung einer männlichen Stimme das Wort ab, die in einer Ecke sanft über die Entschlüsse plätscherte, an denen der Nationalrat letzte Woche erkrankt war, dann sagte die Saaltochter:
»Grüeß di!« Es klang wie ein unterdrückter Freudenruf und Studer wurde aufmerksam, so wie jeder, auch der solideste Mann aufmerksam wird, wenn sich in seiner nächsten Nähe eine zarte Beziehung bemerkbar macht. »Becher Hell’s!« sagte der junge Mann kurz. Es war eine deutliche Ablehnung.
»Ja, Armin«, sagte die Saaltochter geduldig, ein wenig vorwurfsvoll.
Armin? Studer sah sich den Burschen näher an. Dieser gehörte zu jener Sorte junger Männer, die über einen sehr reichlichen Haarwuchs verfügen, und diesen in Form von Dauerwellen über der Stirn aufschichten. Der blaue Kittel war in der Taille so eng geschnitten, dass er waagrechte Falten warf, die breiten hellen Hosen verdeckten die Absätze und schleiften fast am Boden nach.
Das Gesicht? Ja, es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem anderen Gesicht, das Studer heute Morgen in einem grausam hellen Raum gesehen hatte. Das Gesicht des Burschen war magerer, glatter, der Schnurrbart fehlte, aber das Kinn war dasselbe: weich, leicht verfettet…
Die Glücksfälle mehrten sich. Es war sicher der Armin Witschi. Vielleicht erhielt man die Bestätigung.
Die Kellnerin hatte sich an den Burschen gedrängt. Der Armin ließ es sich gefallen.
– Ob er denn nicht den Laden hüten müsse? fragte sie.
– Die Schwester sei heimgekommen, sie habe frei heut nachmittag, brauche nicht nach Bern zu fahren. Übrigens, fuhr er fort, sei ihm alles verleidet. In das Lädeli komme ohnehin niemand mehr, er werde wohl bald auch hausieren müssen wie der Vater, und vielleicht… Die Pause, die folgte, sollte vielsagend sein.
»Nid, Armin!« sagte die Kellnerin. Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein, hatte müde Züge in einem nicht unschönen Gesicht.
– Auf keinen Fall dürfe er reisen, sagte sie; der Schlumpf sei nicht der einzige gewesen, es seien noch mehr beim alten Ellenberger, die zu allem fähig seien…
Sie merkte plötzlich, dass Studer zuhörte, und dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. Der Armin trank einen Schluck aus seinem Glas. Er spreizte dabei den kleinen Finger ab.
Das Wispern der Kellnerin wurde eifriger; Armin beteiligte sich am Gespräch nur mit einzelnen Worten. Aber die wenigen Worte, die er einwarf, hatten Gewicht – falsches Gewicht, hätte Studer am liebsten gesagt. Er zog seine Uhr. Es war halb drei. Er war müde, die Glieder taten ihm weh, das Gewisper ging ihm auf die Nerven. Vielleicht sollte er ein wenig spazieren gehen? Zum Ellenberger? Seine alten Bekannten dort besuchen, den Schreier, der jetzt Klavier spielte und den Buchegger mit der Bassgeige? Die Jazzkapelle genannt: ›The Convict Band!‹… Ein Humorist, dieser alte Ellenberger. Man wurde nicht klug aus ihm. Für seine Leute schien er gut zu sorgen…
Oder war es besser, die Frau zu besuchen, bei der Schlumpf gewohnt hatte?
Ein ödes Blatt, dieser Gerzensteiner Anzeiger. ›Erscheint zweimal wöchentlich mit Beilagen: Für die Frau, Palmblätter, Landwirtschaftliches.‹ Was hieß das ›Landwirtschaftliches‹! Aus einem unerfindlichen Grunde ärgerte dieses Wort den Wachtmeister Studer. Aber was war das?
»In letzter Stunde erfahren wir den traurigen Hinschied unseres wohlverdienten Mitbürgers W. Witschi, der in seinem 50. Altersjahre einer ruchlosen Bubenhand zum Opfer gefallen ist. Herr W. Witschi war bekannt als ein Muster von Treue und Pflichterfüllung, sein Andenken wird uns teuer bleiben, bis über das Grab hinaus, denn er war noch einer von jenen immer mehr aussterbenden Charaktern« –
Studer streichelte seinen Schnurrbart, die ›aussterbenden Charakter‹ gefielen ihm ausnehmend –, ›die nach alter Väter Sitte…‹ – Ja, ja, das kannte man. Studer übersprang ein paar Zeilen.
Aber plötzlich stockte er und las nicht weiter. Etwas hatte ihn gestört: wohl die plötzliche Stille – das Wispern hatte aufgehört. Studer äugte vorsichtig über den Rand der Zeitung. Das Klingen von Geldmünzen war zu hören. Die Kellnerin kramte in dem Ledersack, den sie unter der Schürze trug. Armin tat unbeteiligt und strich dann und wann mit lässiger Gebärde über seine wohlondulierten Haare. Die linke Hand trommelte auf dem Tisch.
Jetzt verschwand sie unter der Tischplatte. Wie viel Geld gibt sie ihm wohl? fragte sich Studer. Das Rascheln einer Banknote war zu hören.
»Ich möchte zahlen…«, sagte Studer laut. Die Kellnerin fuhr mit rotem Kopf in die Höhe, Armin blickte böse zu dem einsamen Gast hinüber, Studer gab den Blick zurück, der Bursche hielt ihn nicht lange aus, Studer nickte unmerklich. Innerlich formulierte er seine Beobachtung: »Nicht ganz sauber überm Nierenstück.«
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