Название: Der Mensch und das liebe Vieh
Автор: Martin M. Lintner
Издательство: Bookwire
isbn: 9783702236359
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a) Freiheit macht verantwortlich
Gerade weil der Mensch nicht nur instinktiv und impulsiv, sondern in Freiheit und überlegt handelt, und weil er durch technische Errungenschaften in die Natur auf eine Weise eingreifen kann, die weit über das hinausgeht, was er durch den Einsatz lediglich der eigenen Körperkraft schaffen könnte, obliegt ihm die Verpflichtung, sich den Mitmenschen, den Tieren und der Natur gegenüber so zu verhalten, wie es dem schöpferischen Handeln Gottes entspricht. „Dass Gott den Menschen als sein Bild, also zu seiner besonderen Entsprechung unter den Geschöpfen schuf, begründet nicht nur einen Vorzug ihnen gegenüber, sondern auch eine Verpflichtung.“50 Der Mensch soll sich einerseits bleibend bewusst sein, dass er in die natürliche Schöpfungsordnung eingebunden ist und dass zwischen ihm und den Tieren eine große Nähe und enge Beziehung herrscht. Andererseits soll er als Ebenbild Gottes der ihm anvertrauten Aufgabe entsprechen und die ihm faktisch gegebenen Möglichkeiten des Eingreifens in die Natur und des Umgangs mit den Tieren und den Mitmenschen so nutzen, dass er damit dem Leben dient und der Schöpfung zum Segen gereicht, indem er das in allen Lebewesen beobachtbare Streben nach Entfaltung und Weitergabe des Lebens als Ausdruck der lebensbejahenden und schöpferischen Liebe Gottes zu deuten weiß. Die leidvolle und oft verstörende Erfahrung, dass Leben de facto jedoch nur auf Kosten anderen Lebens möglich ist, dass das eigene Überleben den Tod anderer Lebewesen impliziert, stellt dabei eine Art „Kontrasterfahrung“ dar, mit der sich viele Menschen nicht abfinden, weil diese Logik des Fressen-und-gefressen-Werdens immer auch Schmerz und Leid verursacht. Die vielen religiösen Rituale rund um das Töten von Tieren, die sich in archaischen Religionen ausgebildet und die zu vielfältigen Opferritualen geführt haben, spiegelt etwas von diesem intuitiven Wissen des Menschen wider, dass jede Tötung eines Tieres nie nur dem eigenen Leben dient, sondern zugleich eine schwerwiegende Verletzung eines anderen Lebewesens ist und in einem gewissen Sinn eine Ordnung stört, sodass entweder dieses Lebewesen selbst oder eine Gottheit dafür um Vergebung gebeten werden muss bzw. durch unterschiedliche Rituale die gestörte Ordnung wiederhergestellt werden muss. Im Unterschied zu den Tieren hat der Mensch die Möglichkeit, über dieses Dilemma, dass Leben nur auf Kosten anderen Lebens möglich ist, zu reflektieren, und er kann die Logik des Fressen-und-gefressen-Werdens wenigstens bis zu einem gewissen Punkt durchbrechen, indem er so weit wie möglich nicht auf Kosten anderer Lebewesen lebt und dort, wo er nicht umhinkommt, es zu tun, Schmerz- und Leidzufügung vermeidet.
b) Der Eigenwert aller Geschöpfe
Allen Geschöpfen kommt deshalb ein Eigenwert zu. Sie auf ihren Nutzwert für den Menschen zu reduzieren, würde dem biblischen Schöpfungsglauben zutiefst widersprechen. Es gibt einen Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein.51 Diese Überlegungen erinnern an den Ansatz der ökologischen Verantwortungsethik von Hans Jonas (1903–1993).52 Nach Jonas kommt jedem Lebewesen von Natur aus ein Selbstzweck zu. Alle Lebewesen streben danach, Lebensmöglichkeiten auf die ihnen eigene Weise zu verwirklichen.53 Jonas spricht von einem „blind sich auswirkenden Ja“, das nach Erhaltung und Entfaltung des eigenen Lebens strebt, und von „vitalen Zwecken“, die sich aktiv dem Nichtsein entgegenstellen. „Obligatorische Kraft gewinnt dieses blind sich auswirkende Ja in der sehenden Freiheit des Menschen, die als höchstes Ergebnis der Zweckarbeit der Natur nicht mehr einfach deren weiterer Vollstrecker ist, sondern mit der vom Wissen bezogenen Macht auch ihr Zerstörer werden kann. Er muss das Ja in sein Wollen übernehmen und das Nein zum Nichtsein seinem Können auferlegen.“54 Während sich nämlich die Tiere diese Zwecke nicht selbst setzen, sondern sie einfach haben, ihnen also „blind“, d. h. von Natur aus folgen, ermöglicht erst die menschliche Freiheit die Setzung und Wahl von Zwecken. Mit anderen Worten: Die dem Menschen faktisch gegebene Freiheit macht ihn unmittelbar dafür verantwortlich, wie er mit sich, den nichtmenschlichen Lebewesen und der Natur umgeht, ob lebensdienlich oder zerstörerisch, ob er das natürliche Streben eines jeden Lebewesens nach Erhaltung und Entfaltung des Lebens fördert oder nicht.
c) Die Verwundbarkeit von Tieren und Menschen
Ein Aspekt, den Tiere und Menschen teilen, ist der der Verletzbarkeit. Die Menschen sind ebenso wie die Tiere verwundbar, sowohl als Individuen als auch in ihrem Eingebundensein in natürliche Zusammenhänge sowie in ihrer Abhängigkeit voneinander und von einem intakten ökologischen Umfeld. Das Ökosystem ist ein komplexes Netz von wechselseitigem Abhängig- und Verwiesensein. Das gemeinsame Bewohnen der Erde und die Nutzung von Synergien zwischen den Lebewesen ist die Grundlage für einen funktionierenden natürlichen Lebensraum, was diesen sowie die ihn bewohnenden Lebewesen aber umso anfälliger macht für Störungen. Was die Menschen von den Tieren allerdings unterscheidet, ist das Wissen um diese fragilen Zusammenhänge. Sie reflektieren über die eigene Verletzbarkeit und über die der anderen Menschen, wissen aber auch um die Vulnerabilität aller Lebewesen. Deshalb gewinnt die Verletzbarkeit obligatorische Kraft. Das Wissen um sie hat moralische Konsequenzen und wird zur Quelle von Verantwortung. Es eröffnet für die zwischenmenschlichen Beziehungen einen Begründungsansatz für die Menschenrechte, für die Mensch-Tier-Beziehungen hingegen für die Tierschutzgesetze.55 Bei aller Differenz von Menschen- und Tierrechten, auf die weiter unten noch im Detail einzugehen ist56, wird jedem verletzbaren Lebewesen grundsätzlich das Recht zuerkannt, in seiner Vulnerabilität geschützt zu werden, d. h., dass ihm nicht Schmerzen oder Verletzungen zugefügt werden. Das nimmt den Menschen in die Pflicht, der als einziges Lebewesen in Freiheit, bewusst und willentlich einem anderen Lebewesen Schmerz und Leid zufügen oder Lebensräume zerstören kann. Albert Schweitzer (1875–1965) hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass wir uns als Menschen mitten unter Lebewesen vorfinden, die ebenso wie wir einen „Willen zum Leben“ haben. Ausgehend davon sowie von der Tatsache, dass wir als Menschen die Fähigkeit haben, diesen Lebenswillen aller Lebewesen wahrzunehmen und zu reflektieren, entwickelte er seinen Ansatz einer „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“. „Was ist Ehrfurcht vor dem Leben, und wie entsteht sie in uns? Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.‘ Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt.“57 Für Schweitzer ergibt sich daraus die Verpflichtung für den Menschen, Leben zu erhalten und zu fördern.
Wie weiter oben ausgeführt worden ist, spiegelt der Herrschaftsauftrag das Wissen um die ambivalente asymmetrische Beziehung des Menschen gegenüber den Tieren wider, schreibt dem Menschen aber zugleich ins Stammbuch, diese Vormachtstellung nicht zu Ungunsten der Tiere auszunützen bzw. diese nur für eigene Interessen zu verzwecken. Aus der Vulnerabilität ergibt sich das Recht auf Schutz, welches jenen Lebewesen zur Pflicht wird, die um diese Verwundbarkeit wissen.
d) Eine verantwortungsethische Anthropozentrik
Wie bereits gesagt: Freiheit macht verantwortlich. Die Moralfähigkeit ist mit der Freiheit gegeben und erweist sich als „Rüstzeug“ dafür, dass der Mensch der ihm von Gott zugedachten Aufgabe gerecht werden kann. In dieser Hinsicht ist aussagekräftig, dass die Bibel die Moralfähigkeit unmittelbar mit der Gottebenbildlichkeit in Zusammenhang bringt: „Und Gott, der HERR, sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses“ (Gen 3,22)58. Die sittliche Verantwortung ist der Gottebenbildlichkeit eingeschrieben. Sie ist mit der Aufgabe verbunden, die Gott für die Menschen entsprechend Gen 1,26 vorgesehen und die er ihnen in Gen 1,28 übertragen hat. Sie kann allerdings nicht dahingehend anthropozentrisch ausgelegt werden, dass sich der Mensch als Mittelpunkt der Schöpfung ansieht und die Natur sowie die Tiere nach Belieben zu seinen eigenen Zwecken nutzen darf. Vielmehr bleibt er selbst eingebunden in die naturalen Abläufe СКАЧАТЬ