Der Mensch und das liebe Vieh. Martin M. Lintner
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der Mensch und das liebe Vieh - Martin M. Lintner страница 9

Название: Der Mensch und das liebe Vieh

Автор: Martin M. Lintner

Издательство: Bookwire

Жанр:

Серия:

isbn: 9783702236359

isbn:

СКАЧАТЬ b) Die Moralfähigkeit als „anthropologische Differenz“

      Im Lauf der Ausführungen wird eingehend auf die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Mensch und Tier zurückzukommen sein. Ein Ergebnis sei vorweggenommen: „Weder ist der Mensch nichts anderes als ein Tier noch ist er ganz anders als ein Tier. Er ist das in Differenz zum Tier lebende Tier. Sein Dasein realisiert sich als Differenzgemeinschaft zum Tier. Zu bestreiten sind daher nicht die vielfältigen empirischen Einsichten der Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier, sondern lediglich, dass hierin schon zugänglich wird, was der Mensch im Vergleich zum Tier ist.“17 Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist u. a. seine Moralfähigkeit. Von einem Menschen erwarten wir, dass er Verantwortung für sein Handeln übernimmt, auch für seinen Umgang mit den Tieren. Von einem Tier fordern wir eine solche Verantwortlichkeit nicht ein. Einen Menschen, der ein Tier misshandelt, ziehen wir dafür zur Rechenschaft, einen Löwen, der einen Menschen anfällt und verletzt, ja sogar tötet, machen wir dafür nicht verantwortlich.

      Menschen haben die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu wählen und sich für eine bestimmte zu entscheiden. Die jeweilige Entscheidung ist dabei nicht nur emotional-affektiv bedingt, sondern auch kognitiv begründet. Der Mensch kann sich einerseits seiner Emotionen vergewissern und sie kritisch reflektieren, er handelt also nicht nur „aus dem Bauch heraus“ oder bestimmten Impulsen oder Instinkten folgend, andererseits kann er vernünftig nachdenken und Gründe anführen, die seine Entscheidung bzw. sein Handeln rechtfertigen und als sittlich vertretbar ausweisen. Vereinfacht gesagt: Jemand handelt nicht nur aus Neigung oder impulsiv, motiviert durch Eigeninteresse oder Zweckdienlichkeit, sondern (auch) aus vernünftigen Gründen. Er will gewissen sittlichen Werten und Prinzipien entsprechen, von deren Richtigkeit und Verbindlichkeit er überzeugt ist, aber auch ein Ziel erreichen, das er für ethisch vertretbar hält. Willensfreiheit und Vernunftbefähigung begründen die Moralfähigkeit des Menschen. Beobachtet der Mensch sich, sein Handeln und Verhalten, wie er mit sich selbst und den Mitmenschen, aber auch mit den Tieren, der Umwelt und der Natur umgeht und zu ihnen in Beziehung steht, erfährt er sich als ein Wesen, das zu vernünftigem Wollen und Handeln befähigt und dafür verantwortlich ist, wie er diese Beziehungen gestaltet. Diese Fähigkeit, emotional reflektiert und vernünftig motiviert zu handeln, bzw. die Willensfreiheit und die Vernunft im Sinne praktischer Vernunft als Fähigkeit zur moralischen Entscheidung, markieren eine Differenz zwischen Mensch und Tier. Wie im Detail aufzuzeigen sein wird, bedeutet diese Differenz weder die Leugnung der Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier, noch begründet sie einen Ausschluss der nichtmenschlichen Lebewesen aus der moralischen Gemeinschaft. Das bedeutet: Auch wenn die nichtmenschlichen Lebewesen keine moralischen Subjekte im eben beschriebenen Sinn sind, sind sie moralische Objekte, d. h., dass der Mensch für das Verhalten ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Der Mensch trägt Verantwortung für die Folgen seines Handelns und Verhaltens, als auch dafür, wie es sich auf die anderen – inklusive der Tiere und der Umwelt – auswirkt.

      Der Verantwortungsbegriff setzt voraus, dass das handelnde Subjekt Urheber seiner Handlung ist und frei handeln kann. Eine Handlung lässt sich damit nicht – jedenfalls nicht zur Gänze – angemessen durch Rekurs auf sie bedingende äußere und innere Faktoren verstehen, etwa auf die äußeren Umstände, auf evolutionsbiologische Mechanismen oder die psychische Disposition eines Menschen. Nur unter dieser Bedingung wird ein Mensch zu einem verantwortlichen Subjekt. Als solches handelt er nicht (nur) aus Zweckmäßigkeit oder Neigung, sondern immer auch um des sittlich Richtigen wegen, um das er weiß – sei es mit dem zunächst noch unthematisierten, d. h. vorreflexiven „moralischen Gespür“, von dem bereits die Rede war, sei es im Sinne von vernünftig reflektierten und erkannten sittlichen Einsichten. Dem sittlichen Wissen wohnt ein verbindlicher Charakter inne, der als solcher nicht zur freien Disposition steht. Verantwortung erwächst aus der persönlichen Einsicht in das sittlich Richtige und in die Folgen des Handelns. Das moralische Gespür beispielsweise, dass es sittlich falsch ist, einem empfindungsfähigen Lebewesen Schmerzen zuzufügen, verpflichtet mich, Schmerzzufügung zu vermeiden – und wenn ich es trotzdem tue, unterliege ich hierfür der Rechenschaftspflicht, d. h. dass ich entsprechend vernünftige und gewichtige Gründe dafür aufweisen muss.

      Verantwortliches Handeln bedarf schließlich neben dem genannten sittlichen Wissen auch der Sachkenntnis in Bezug auf das Handlungsobjekt. So macht es z. B. einen Unterschied, ob ein Organismus fähig ist, Schmerzimpulse im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas zu verarbeiten, oder ob ein Individuum sie auch subjektiv als eine negative Empfindung wahrnehmen kann; und es macht einen Unterschied, ob ein Lebewesen zu kognitiven Leistungen fähig ist, die auf Selbstwahrnehmung und Ich-Bewusstsein schließen lassen, oder nicht. So wissen wir heute beispielsweise, dass Fische sehr wohl schmerzempfindlich sind und physiologisch die Voraussetzungen dafür haben, Schmerzen auch subjektiv wahrzunehmen, und dass Tiere wie Primaten, Delfine, Wale usw. die soeben genannten kognitiven Fähigkeiten besitzen. Diese naturwissenschaftlichen und verhaltensbiologischen Erkenntnisse sind von eminent ethischer Relevanz, sie bestimmen nämlich mit, was es bedeutet, sich diesen hochentwickelten und hochsensiblen Tieren gegenüber verantwortlich zu verhalten. Dabei bleibt in besonderer Weise die Tatsache zu berücksichtigen, dass uns gerade die faszinierenden Erkenntnisse der gegenwärtigen Verhaltensbiologie zugleich deutlich machen, wie wenig wir noch über bestimmte Tiere wissen. Unser Umgang mit den Tieren steht deshalb immer unter einem gewissen Vorbehalt eines möglichen Nichtwissens von ethisch relevanten Aspekten. Dieser Vorbehalt mahnt zu Zurückhaltung und Vorsicht.

       c) Tiere als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft

      Die Forderung, Tiere als moralische Objekte und damit als Adressaten moralischer Verpflichtung anzuerkennen, bedeutet, sie in die moralische Gemeinschaft einzuschließen. Die Auswirkungen des menschlichen Handelns auf die Tiere sind Teil der menschlichen Verantwortung und damit sittlich rechenschaftspflichtig. Wir Menschen sind verantwortlich für unseren Umgang mit Tieren, allerdings – und hier wird die angesprochene anthropologische Differenz wiederum deutlich – nicht vor den Tieren. Ein Tier kann vom Menschen nicht Rechenschaft einfordern, wie er seine Verantwortung für es wahrgenommen hat. Menschen hingegen sind nicht nur füreinander verantwortlich, sondern können auch voneinander Rechenschaft verlangen: Sie sind für den anderen verantwortlich, aber auch vor ihm. Ein Kind kann beispielsweise seine Eltern zur Rechenschaft ziehen dafür, wie sie ihrer Verantwortung für ihr Kind nachgekommen sind, d. h., dass die Eltern für ihr Kind und auch vor ihm verantwortlich sind.18 Tiere stellen im Unterschied zum Menschen keine moralische Instanz dar, vor der der Mensch zur Verantwortung gezogen werden kann, aber sie sind moralische Objekte, für die er Verantwortung trägt.

      In der vorliegenden Publikation wird an zentraler Stelle der tierethische kategorische Imperativ formuliert: Handle so, dass du die Tiere sowohl im einzelnen Individuum wie in der Gesamtgemeinschaft der Tiere nie bloß als Mittel zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse brauchst, sondern ihnen zugleich auch entsprechend ihren je eigenen artspezifischen und individuellen Bedürfnissen, emotionalen Vermögen und kognitiven Fähigkeiten gerecht wirst.19 Sprachlich knüpft diese Formulierung an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant an. Im vorliegenden Kontext ist die Anekdote interessant und erwähnenswert, dass Kant über den kategorischen Imperativ nachzudenken begonnen hat, nachdem er eine für ihn zunächst unerklärliche Beobachtung bei Schwalben gemacht hatte. Sein wissenschaftlicher Assistent Ehregott Andreas Ch. Wasianski überliefert, wie Kant bei einem Spaziergang am Boden tote Schwalbenjunge sah, die von den Elternvögeln aus den Nestern geworfen worden sind. Die Erklärung für dieses Verhalten fand er darin, dass die Schwalbeneltern aufgrund von Futtermangel die schwächeren Jungen aus den Nestern drängen, um die anderen ausreichend ernähren zu können. Fasziniert von diesem „verstandesähnlichen Naturtrieb, der die Schwalben lehrt, beim Mangel hinlänglicher Nahrung für alle Jungen einige aufzuopfern, um die übrigen zu erhalten“, begann er, über ein Gesetz nachzusinnen, das den Menschen ebenso sicher leiten kann wie die Instinkte die Tiere.20

СКАЧАТЬ