Название: Fjodor Dostojewski: Hauptwerke
Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754189153
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»Nein, wissen Sie, es wird schon das beste sein, wenn ich rede!« fuhr der Fürst in einem neuen fieberhaften Impuls fort, indem er sich vertraulich geradezu an den Alten wandte. »Aglaja Iwanowna hat mir gestern verboten zu reden und mir sogar die Themata genannt, über die ich nicht reden dürfe; sie weiß, daß ich bei Erörterung dieser Themata lächerlich werde! Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt; aber ich weiß ja, daß ich noch wie ein Kind bin. Ich habe kein Recht, meine Gedanken auszusprechen; das habe ich schon immer gesagt; ich habe nur in Moskau, mit Rogoschin, ganz offenherzig gesprochen ... Wir beide haben zusammen Puschkin gelesen, ihn ganz durchgelesen; er kannte nichts davon, nicht einmal den Namen Puschkin ... Ich fürchte immer, durch mein komisches Wesen dem Gedanken und der Hauptidee Eintrag zu tun. Ich verstehe mich nicht auf Gestikulation. Ich mache immer Handbewegungen, die den richtigen entgegengesetzt sind, und das ruft Gelächter hervor und schadet dem Ansehen der Idee. Ich habe auch kein Gefühl für das rechte Maß, und das ist das Wichtigste; das ist sogar das allerwichtigste ... Ich weiß, daß ich am besten täte stillzusitzen und zu schweigen. Wenn ich das durchsetze und schweige, dann mache ich sogar den Eindruck eines ganz vernünftigen Menschen und denke überdies im stillen über dies und jenes nach. Aber jetzt ist es doch besser, wenn ich rede. Ich habe zu reden angefangen, weil Sie mich so nett ansehen; Sie haben ein so nettes Gesicht! Ich habe gestern Aglaja Iwanowna mein Wort darauf gegeben, heute den ganzen Abend zu schweigen.«
»Vraiment?« fragte der Alte lächelnd.
»Aber in manchen Augenblicken denke ich, daß ich Unrecht tue, diese Anschauung zu hegen; denn Offenherzigkeit ist doch wohl ebensoviel wert wie eine schöne Gestikulation? Nicht wahr?«
»Manchmal.«
»Ich will Ihnen alles klarlegen, alles, alles, alles! O ja! Sie denken, ich sei ein Utopist, ein schwärmerischer Idealist? O nein, weiß Gott, meine Gedanken sind immer von ganz einfacher Art ... Sie glauben es nicht? Sie lächeln? Wissen Sie, ich bin manchmal ein gemeiner Mensch, weil ich den Glauben verliere. Vorhin ging ich hierher und dachte: ›Na, wie werde ich mit ihnen reden? Womit muß ich anfangen, damit sie wenigstens etwas verstehen?‹ Was hatte ich für Furcht; aber ich hatte in der Hauptsache Furcht für Sie; es war schrecklich, ganz schrecklich! Aber doch: durfte ich denn Furcht haben? Mußte ich mich nicht schämen, Furcht zu haben? Was tut es denn, daß auf einen Vorgeschrittenen eine solche Menge von Zurückgebliebenen, Schlechten kommt? Und das ist für mich nun gerade ein Grund zur Freude, daß ich jetzt die Überzeugung gewonnen habe, daß es sich gar nicht um eine solche tote Menge handelt, sondern daß das lauter lebensvolles Material ist! Wir dürfen uns auch dadurch nicht beirren lassen, daß wir komisch sind, nicht wahr? Es ist ja freilich wirklich so: wir sind komisch, leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu sehen, verstehen nicht zu begreifen; wir sind ja alle von dieser Art, alle, Sie und ich und alle andern! Sie fühlen sich doch nicht beleidigt dadurch, daß ich Ihnen ins Gesicht sage, Sie seien komisch? Wenn dem aber so ist, sind Sie denn dann nicht lebensvolles Material? Wissen Sie, meiner Ansicht nach ist es manchmal sogar gut, komisch zu sein, sogar das Beste: man kann einander leichter verzeihen und sich leichter miteinander versöhnen; man kann doch auch nicht alles auf einmal verstehen, nicht gleich mit der Vollkommenheit anfangen! Um die Vollkommenheit zu erreichen, muß man vorher gar vieles nicht verstanden haben! Und wenn man etwas gar zu schnell versteht, so ist Gefahr, daß man es nicht ordentlich versteht. Das sage ich Ihnen, die Sie es schon fertiggebracht haben, so vieles zu verstehen und ... nicht zu verstehen. Ich habe jetzt keine Furcht für Sie; Sie sind ja doch nicht böse darüber, daß ein so junger Mensch solche Worte zu Ihnen spricht? Gewiß nicht! Oh, Sie verstehen es, zu vergessen und denen zu verzeihen, von denen Sie beleidigt sind, und denen, die Ihnen keine Beleidigung zugefügt haben; denn am allerschwersten ist es ja, denen zu verzeihen, die uns mit nichts beleidigt haben, und zwar eben deswegen, weil sie uns nicht beleidigt haben und folglich unsere Beschwerde über sie unbegründet ist: das ist es, was ich von den höchstgestellten Leuten erwartet hatte: das ist's, was ich denselben, als ich hierher kam, so schnell wie möglich sagen wollte, obgleich ich nicht wußte, wie ich es sagen sollte ... Sie lachen, Iwan Petrowitsch? Sie denken, ich hätte für die andern Schichten Furcht gehabt, sei ihr Advokat, ein Demokrat, ein Gleichheitsapostel?« Hier lachte er krampfhaft, wie er denn alle Augenblicke ein kurzes, entzücktes Lachen ausstieß. »Ich habe Furcht für Sie, für Sie alle, für Sie alle zusammen. Ich bin ja selbst ein Fürst aus einem alten Geschlecht und sitze hier unter Fürsten. Ich rede hier, um uns alle zu retten; ich rede, damit nicht unser Stand, ohne etwas bewirkt zu haben, im Dunkel verschwindet, nachdem er nichts begriffen, sich um alles herumgestritten und alles verspielt hat. Wozu sollen wir verschwinden und andern unsern Platz einräumen, wenn wir die vordersten und obersten bleiben können? Wenn wir die vordersten sein werden, dann werden wir auch die obersten sein. Wir wollen Diener sein, um die obersten zu werden.«
Er wollte sich losreißen, um von seinem Sessel aufzustehen; aber der Alte hielt ihn beständig fest, betrachtete ihn aber mit wachsender Unruhe.
»Hören Sie! Ich weiß, daß es nicht gut ist, bloß zu sprechen; besser ist es, wenn man einfach ein gutes Beispiel gibt und einfach selbst den Anfang macht ... ich habe bereits den Anfang gemacht ... und ... und ist es denn wirklich möglich, unglücklich zu sein? Oh, was will mein Kummer und mein Leid besagen, wenn ich imstande bin glücklich zu sein? Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorbeigehen kann, ohne darüber glücklich zu sein, daß man ihn sieht; wie man mit einem Menschen reden und nicht darüber glücklich sein kann, daß man ihn liebt! Oh, ich verstehe es nur nicht auszudrücken, aber wie viele schöne Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die sogar der verkommenste Mensch schön findet! Sehen Sie ein Kind an, sehen Sie die Morgen- und Abendröte an, betrachten Sie ein Gräschen, wie es wächst; schauen Sie in die Augen, die liebevoll auf Sie blicken ...«
Er war schon längst während des Redens aufgestanden. Der Alte sah ihn jetzt erschrocken an. Lisaweta Prokofjewna, die früher als alle andern merkte, was vorging, rief: »Ach, mein Gott!« und schlug die Hände zusammen.
Aglaja lief schnell zu ihm hin, fing ihn gerade noch in ihren Armen auf und hörte voller Angst mit schmerzverzerrtem Gesicht den wilden Schrei des Dämons, der den Unglücklichen schüttelte und niederwarf. Der Kranke lag auf dem Teppich. Jemand hatte noch Zeit gefunden, ihm schnell ein Kissen unter den Kopf zu schieben.
Das hatte niemand erwartet. Eine Viertelstunde darauf versuchten Fürst N., Jewgeni Pawlowitsch und der Alte das Zusammensein wieder etwas lebendiger zu gestalten; aber schon nach einer weiteren halben Stunde brachen alle Gäste auf. Dabei erfolgten zahlreiche Äußerungen der Teilnahme und des Bedauerns; manche sprachen auch ihre Meinung über den Vorfall aus. Iwan Petrowitsch sagte unter anderm, der junge Mann sei ein Slawophile oder etwas Ähnliches, indes sei das nicht weiter gefährlich. Der Alte äußerte sich gar nicht. Nachher allerdings am nächsten und übernächsten Tag, waren alle in etwas ärgerlicher Stimmung; Iwan Petrowitsch fühlte sich sogar beleidigt, wenn auch nur ein wenig. Der General, der Iwan Fjodorowitschs Chef war, benahm sich eine Zeitlang gegen diesen etwas kühl. Der Patron der Familie, der Würdenträger, murmelte dem Oberhaupt der Familie unter Kaubewegungen ein paar tröstende Worte zu, wobei er in schmeichelhafter Weise zum Ausdruck brachte, daß er an Aglajas Geschick sehr, sehr großen Anteil nehme. Er war wirklich ein ganz gutherziger Mensch, aber unter den Gründen, aus denen er bei der Abendgesellschaft dem Fürsten seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, spielte eine besondere Rolle das Verhältnis, in welchem der Fürst unlängst zu Nastasja Filippowna gestanden hatte; er hatte davon gehört, interessierte sich sehr dafür und hätte sogar gern danach gefragt.
Die alte Bjelokonskaja sagte, als sie am Abend wegfuhr, zu Lisaweta Prokofjewna:
»Na ja, er hat sein Gutes und sein Schlechtes; aber wenn du meine Meinung wissen willst, so muß ich sagen: das Schlechte überwiegt. Du siehst ja selbst, was er für ein Mensch ist, ein kranker Mensch!«
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