Название: Der Pferdestricker
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750219397
isbn:
20.9.2000
Die kleine Ziege kommt nicht mehr! Heute war sie schon zum zweiten Mal nicht an unserem Treffpunkt. Hoffentlich hat sie niemandem etwas erzählt. Ich muss vorsichtig sein. Ich bin schon Stunden vor unserer Verabredung in der Gegend und inspiziere genau die Umgebung.
21.9.2000
Sie ist wieder da. Sie war für ein paar Tage bei ihrer anderen Oma, weil ihre Mutter im Krankenhaus lag. Dieses ganze Brimborium ringsum ist so entsetzlich banal! Sie hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie niemandem etwas erzählt hat von mir und unserem Geheimnis. Ich glaube ihr. Der Vorteil von Kindern ist, dass sie nicht lügen können, weil man es sofort merken würde. Trotzdem muss ich mich beeilen. Ich habe ihr noch einmal das Bild des Tieres gezeigt und gesagt, dass es nun so weit ist. ...
24.9.2000
In meinem Kopf dreht sich alles. Wie in einem Karussell, das sich stets schneller dreht und droht, in einem schrecklichen Chaos zusammenzustürzen. Es ist, als wenn man die Zeit anhalten muss.
Die Zeit läuft einfach zu schnell, alles wird lächerlich wie in einem Charlie-Chaplin-Film, und man bekommt Kopfschmerzen. So hat gar nichts einen Sinn.
Ich lebe nur noch von Bildern, oder besser gesagt: von den Bildern aus Bildern. Es fehlt der begründende Überbau, und dann verliert alles auf Dauer seine Würde.
Spätestens seit heute ist mir überdeutlich, dass jeder Mensch in seinem Leben nur ein einziges Geheimnis lösen kann; dass er überhaupt nur existiert, weil ihm von irgendeiner Instanz der Auftrag zur Enthüllung und vielleicht sogar Lösung dieses einen Problems erteilt wurde. Dass die meisten Menschen sich zeit ihres Lebens nicht einmal dieses Problems bewusst werden, das spricht nicht dagegen; es spricht nur für die Dummheit der meisten Menschen und die grauenhafte Ignoranz und Oberflächlichkeit unserer Zeit.
Das Wort Enthüllung ist wortwörtlich zu nehmen: Die Wirklichkeit ist ein chaotisches Nebeneinander von Erscheinungen, die man vom wahnsinnigen Karussell unserer Zeit reißen muss, um sie zu ordnen und zu sehen als das, was sie sind: Abbilder des Ewigen oder Schrott.
Die Realität ist der Steinbruch dieser Arbeit; außerhalb der Realität gibt es nichts. Die Realität als solche ist aber wertlos; sie muss geordnet werden. In das Ewige, die Träume davon, den Schrott.
Die Erfüllung dieser Aufgabe rechtfertigt den Einsatz aller Mittel.
Aller. Es wäre nun leicht zu sagen, sie rechtfertige auch den Mord. Aber dieses Wort bewertet, und hier geht es nicht um Wertungen. Der Tod des alten Mannes war nicht geplant, war aber insofern notwendig, weil er sich der Aufgabe in den Weg gestellt hat, die getan werden muss. Muss!!!! Die Zeit zur Erledigung dieser Aufgabe ist begrenzt. Ich habe schon viel zu lange gewartet und bin ungeduldig. Der Tod des Alten war auch ein Startsignal.
Ich hoffe nur, er hat keine weiteren Aufzeichnungen hinterlassen. Im Prinzip wären sie wertlos, das Ewige lässt sich nicht in Sprache fassen, nur in Bilder. In wenige Bilder. Und diese Bilder sehen zu können, setzt den Seher voraus, nicht irgendeinen x-beliebigen Hanswurst wie diesen Alten, der über das, was er gesehen hat, lediglich banale Notizen für seine Anzeige bei der Polizei machen kann. (Und doch könnten Aufzeichnungen des Alten lästig werden, vielleicht sogar alles zunichte machen, weil die Dummheit der Menschen sie an die Sprache glauben lässt, nicht an die Bilder.)
Nur eines noch: Ich habe endgültig erkannt, dass ich nicht die handelnde Person sein kann. Ich erfinde die Geschichten, und damit bin ich auch die einzige Person, die weiß, dass sie möglicherweise nicht stimmen. Erst wenn ich andere dazu bringe, die handelnden Personen meiner Geschichten zu werden, dann erst stimmen diese Geschichten. Dann sind sie wahr. Es muss einfach jemand kommen, der größer ist als ich. Größer auch als Jonas, der ja selten mehr sein kann als ein Instrument. Als Mittel zum Zweck.
Aber ich bin zuversichtlich: Die Realität hält fast zu viel bereit! Bis jetzt war ich nur zu feige. Das wird sich von nun an ändern. Ich muss mir noch über meine neue Rolle mehr Klarheit verschaffen.
PS: Der Tod der Kleinen war geplant. Und weil ich nicht will, dass wie bei einem x-beliebigen Triebtäter alles reduziert wird auf die aus Angst gegebene Notwendigkeit zur Beseitigung eines Zeugen, bezeichne ich sie von jetzt an als Opfer.
Ein Opfer für etwas viel Größeres.
Genau wie das Tier.
Genau wie Klaus.
2.10.2000
Der Tod des Alten wirbelt viel Staub auf. Die Zeitungen stehen voll davon. Anscheinend war er im Ruhrgebiet eine ziemlich bekannte Figur. Ich habe das nicht gewusst, und so etwas ist auch völlig unwichtig. Die Rolle, die wir in einer Gesellschaft einnehmen, hat eben fast nie etwas zu tun mit der Rolle, die wir im wirklichen Leben einnehmen.
Das Tier interessiert anscheinend niemanden, nur mich. Aber im Augenblick muss ich aufpassen. Ich will dort nicht auffallen.
Jonas habe ich seit der besagten Nacht nicht mehr gesehen. Einerseits ist das gut, weil wir wahrscheinlich beide im Augenblick etwas Distanz brauchen; andererseits ist es schlecht, weil ich ihn dann nicht steuern kann und somit auch nicht weiß, was er gerade macht.
Das Schlimme an Jonas ist, dass man mit ihm nicht wirklich reden kann. Er überlegt keine Sekunde, er tut die Dinge einfach. Bei mir ist es genau umgekehrt: Ich überlege viel zu lange und fühle mich letztlich oft handlungsunfähig. Jonas und ich zusammen in einer Person wären wirklich der ideale Mensch!
Aber schon wegen der polizeilichen Aktivitäten in den letzten Tagen will ich Jonas im Augenblick erst mal außen vor lassen.
22.10.2000
Ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll.
Manchmal denke ich, ich hätte Angst wegen des ganzen Medienrummels um den Alten, aber das ist Unsinn. Ich habe keine Angst. Wovor auch? Es ist einfach diese Leere, die ich nicht ertragen kann. Es muss etwas passieren, aber ich weiß nicht, wie ich das arrangieren soll. Dafür träume ich fast jede Nacht. Manchmal möchte ich nicht mehr wach werden.
24.3.2001
In den letzten Wochen war ich des öfteren auf dem Fußballplatz in Gelsenkirchen. Ich weiß selber nicht, warum in Gelsenkirchen; es ist vor allem so, dass ich hier auf gar keinen Fall gesehen werden möchte. Mir gefällt es dort. Nicht der Ort. Mir gefallen die Männer. Und auf gar keinen Fall bin ich schwul, wenn ich sage, dass mir diese Männer gefallen. Das alles hat mit dem karnevalistischen Treiben in der schwulen Subkultur überhaupt nichts zu tun. Überhaupt nichts!
Ich suche nach Handelnden für meine Geschichte.
‚Meine Geschichte’ ist falsch. Für die Geschichte.
Oder nennen wir es doch gleich Mythos.
15.4.2001
In der letzten Zeit träume ich wieder, und ich weiß, dass ich diese Träume nicht mehr lange werde aushalten können. Nicht weil diese Träume fürchterlich sind, sondern weil sie grandios, letztlich aber so unendlich weit entfernt scheinen von der ekeligen Realität, in der ich mich im Augenblick befinde. In dieser Realität scheinen die Träume nichts zu sein als belanglose Schatten, die man wegwischt, wenn man erwacht. Wenn man sie zu interpretieren versteht, sind sie zwar als solche schon großartig, aber letztendlich doch wertlos: Sie müssen verwirklicht werden.
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