Название: Der Pferdestricker
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750219397
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Aber mit Klaus habe ich jetzt ein Problem.
3.9.2000
Mir ist eine grandiose Idee gekommen. Erwachsene zum Sehen zu bringen ist äußerst schwierig, weil ihnen schon die Sprache der ersten Welt in jeder Beziehung im Wege steht. Aber bei Kindern ist das etwas anderes. Kinder sind noch weitgehend unverdorben, was die Einflüsse der ersten Welt betrifft. Die Vorstellung, ein Kind zum Sehen zu bringen macht mich unendlich geil.
4.9.2000
Auf keinen Fall darf es ein Kind aus der Nachbarschaft sein. Es wäre zu gefährlich. Und außerdem ist die Rolle, die ich spiele, mittlerweile so unendlich weit entfernt von all dem spießigen Getue rings um mich. Ich will andere aufrütteln, aber ich habe keine Lust, dies mit einem Wust an Worten tun zu müssen, die letztendlich ohnehin bei diesem Spießerpack nichts fruchten. Überhaupt verachte ich die Sprache immer mehr, weil sie das Leben verhindert. Man muss Bilder sehen und überzeugt sein. Und wenn man sie sieht, ganz einfach die Klappe halten.
6.9.2000
Ich bin heute bis ins südliche Ruhrgebiet gefahren, aber ich habe nichts Geeignetes gefunden. In den letzten Tagen lebe ich in einer fürchterlichen Unruhe, weil ich genau weiß, was ich will, aber nicht weiß, wie ich dies umsetzen kann. Um zu finden, muss man vorher genau festlegen, was man sucht, und planen, wie man es bekommt.
Es kann kein Kind aus den sogenannten besseren Kreisen sein. Die Gefahr einer sofortigen Entdeckung ist viel zu groß. Es muss ein Kind sein, das weniger behütet ist, dessen Verschwinden für eine ganze Nacht sogar unentdeckt bleiben kann. Bei den behüteten Kindern besteht zudem die große Gefahr, dass sie sich von dem Gerede der Erwachsenen einfangen lassen, dass sie schon davon infiziert sind und diese altklugen Gören sich möglicherweise verplappern und alles zunichte machen. Ich suche also ein weniger behütetes Kind, das möglichst wenig Gelegenheit hat, mit Erwachsenen zu reden.
9.9.2000
Ich fahre herum, und es bringt gar nichts.
10.9.2000
Nichts. Gar nichts. Bin heute bis ins Bergische Land gefahren. Nur eine Erkenntnis gewonnen: Auf dem Land ist es auf jeden Fall viel zu gefährlich. Da fällt ja schon ein fremdes Auto auf. Es muss in einer Stadt sein.
11.9.2000
Dieses sinnlose Herumfahren macht mich völlig fertig. Ich war schon seit Tagen nicht mehr an der Universität. Die Prüfung in der nächsten Woche interessiert mich nicht im geringsten, und doch muss ich sie unbedingt bestehen; Mutter spricht mich andauernd darauf an. Ich darf nicht auffallen. Auf gar keinen Fall darf ich jetzt auffallen.
13.9.2000
Ich glaube, es klappt. Auf einem Spielplatz in Essen-Stoppenberg. Ziemlich heruntergekommene Gegend. Die Mutter ist alleinerziehend und berufstätig. Die Kleine ist nach dem Kindergarten bei ihrer Oma, und das heißt meistens draußen und unbeaufsichtigt. Nur auf dem Spielplatz muss ich aufpassen: Ein Mann fällt dort auf.
Ich will dort nicht als Schwuler gelten. Ein paar türkische Jugendliche dort sind ziemlich unerträglich.
14.9.2000
Es ist verblüffend, wie ohne allen Argwohn dieses Mädchen ist. Es macht mir mittlerweile einen unglaublichen Spaß, mir Geschichten auszudenken, die ich ihr erzählen kann. Nur müssen wir von diesem verdammten Spielplatz weg; diese Janitscharenhorden, die dort herumlungern, sind einfach ekelhaft. Ich hasse diese unzivilisierte Bande jeden Tag mehr.
Mittlerweile habe ich der Kleinen ein Foto gezeigt, und sie fand das Tier von der Weide nur süß. Natürlich tut sie das, weil es mittlerweile die einzig mögliche Sichtweise auf diese Viecher ist. Sie sind süß, weil eine Herde bekloppter Zicken es so bestimmt. Das ist einfach ekelhaft! Die ganze Gesellschaft lässt sich von kleinen Blagen kastrieren!
Ich habe der Kleinen gesagt, dass es aber ein böses Tier ist. Sie wollte es natürlich kaum glauben. Ich muss es ihr möglichst bald zeigen.
Mittlerweile macht es mich schon geil, wenn sie das Tier süß findet und ich schon weiß, was Jonas mit ihm vorhat. (Nur die maximale Differenzierung bringt die maximale Befriedigung.)
15.9.2000
Heute ließ es sich nicht vermeiden, dass ich mich kurz an der Uni sehen ließ. Und letztendlich war es gut so. Mehr als das! (Auf jeden Fall war alles kein Zufall mehr. Es gibt gar keine Zufälle.)
Ich habe diesen Volkspoesie-Heini wieder getroffen, und obschon ich mich zuerst verstecken wollte, haben wir letztlich über zwei Stunden lang in der Cafete gesessen und am Ende hat er mir die Geschichte vom Pferdestricker erzählt. Genauer gesagt: die Sage vom Pferdestricker. (Oder habe ich ihn womöglich dazu gebracht, mir diese Geschichte zu erzählen? Ihn gezwungen, sich diese Geschichte auszudenken?)
Es ist die Geschichte der letzten Wildpferde im Emscherbruch. In regelmäßigen Abständen werden sie gefangen, um dem Menschen zu dienen. Und ein Kerl, eben der Pferdestricker, tut sich dabei besonders hervor, weil auch die wildesten Tiere nicht in der Lage sind, ihm Widerstand zu leisten. Er besiegt sie alle.
Und macht mit ihnen, was er will.
18.9.2000
Heute habe ich der Kleinen endlich die Geschichte vom Pferdestricker erzählen können. Nur dass die Wildpferde nicht gefangen werden, um zu arbeiten, sondern weil sie böse sind. Böse und gefährlich. Sie bringen Verderben über die Menschen, wenn man sie nicht bekämpft. Vor allem nehmen sie kleinen Kindern ihre nächsten Angehörigen. Das stimmt natürlich nicht ganz mit der Geschichte überein, aber wenn es hilft ... Ich habe ihr noch einmal das Bild gezeigt, und ich hatte das Gefühl, dass sie mir schon mehr glaubt als noch vor ein paar Tagen. Ob sie das alles versteht, weiß ich natürlich nicht. Aber sie wird ja schon sehen!
Dass ihr dieses Vieh mit Sicherheit noch im Traum begegnen wird, habe ich ihr auch erzählt. Und vor allem habe ich ihr eingehämmert, dass sie mit niemandem über dieses Tier reden darf, bevor der Pferdestricker es unschädlich gemacht hat, weil es ansonsten sein verderbliches Werk sofort beginnen und sie ihre Mutter und ihre Oma niemals mehr wiedersehen wird. (Auf Sachen kommt man! Vielleicht sollte ich selber mal anfangen, eine zeitgemäße Version des Pferdestrickers zu schreiben!)
Wie ich gehofft hatte, war sie völlig schockiert und hat alles versprochen. Ob ich den Pferdestricker schon einmal gesehen habe, wollte sie wissen.
Nun will sie ihn auch noch sehen!
19.9.2000
Heute habe ich ihr ein Bild vom Pferdestricker gezeigt. Es ist Jonas, der mit weit gespreizten Beinen und mit dem Rücken zur Kamera steht. Sein Kopf ist nicht zu sehen, und ich habe ihr gesagt, dass niemand das Gesicht des Pferdestrickers sehen dürfe, bevor er seine schwierige Aufgabe erfüllt hat. Erst danach werde sie ihn sehen. Und das stimmt ja auch.
Mehr kann ich ihr im Augenblick nicht zeigen! Es ist der Ausschnitt eines Bildes, das ich vor kurzem in unserem Garten aufgenommen habe, als Mutter zur Arbeit war. Ansonsten hätte ich Jonas in unserem Garten doch gar nicht fotografieren können! Ich hatte ihn gebeten, sich mit dem Rücken zur Kamera und mit in die Hüften gestemmten Armen von mir fotografieren zu lassen, ein richtiges Machofoto halt. Ihn darum zu bitten, ist mir schwer genug gefallen, aber ich wollte unbedingt ein Bild von seinem geilen Arsch haben.
Nun glaubt sie mir, dass Jonas mit dem üblen Vieh СКАЧАТЬ