Название: Edgar Allan Poe - Gesammelte Werke
Автор: Edgar Allan Poe
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783746750125
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Ich hatte in Paris davon gehört, in dem Institut des Herrn Maillard werde das sogenannte »Besänftigungs-System« angewendet, d. h. Strafen wurden vermieden, und selbst Einzelhaft wurde nur selten verhängt – vielmehr ließ man den Patienten, die nur heimlich überwacht wurden, möglichst viel Freiheit; die meisten durften in Haus und Garten frei umhergehen, als seien sie bei voller Vernunft.
Dieser Information erinnerte ich mich jetzt und nahm mich daher in meinem Gespräch mit der jungen Dame in acht; ich wußte nicht, ob sie nicht zu den Kranken zähle; und tatsächlich hatte ihr glänzendes Auge etwas Rastloses, Flackerndes, das mir verdächtig vorkam. Ich beschränkte meine Bemerkungen daher auf gleichgültige Dinge, von denen ich dachte, daß sie einem Irren weder mißfallen noch ihn aufregen könnten. Sie antwortete auf alles, was ich sagte, vollkommen vernünftig, und sogar ihre selbständigen Äußerungen trugen den Stempel klarer Vernunft. Indessen hatte mich eingehende Kenntnis der Geisteskrankheiten und ihrer Wandlungen gelehrt, diesen scheinbaren Beweisen von Gesundheit nicht zu trauen, und ich setzte die Unterhaltung ebenso vorsichtig fort, wie ich sie begonnen hatte.
Ein Diener in hübscher Livree trat ein und brachte ein Tablett mit Obst, Wein und sonstigen Erfrischungen, die ich mir schmecken ließ; bald darauf verließ die Dame das Zimmer. Als sie gegangen, blickte ich meinen Gastgeber fragend an.
»Nein,« sagte er, »o nein – die Dame ist ein Glied meiner Familie – meine Nichte, eine höchst gebildete Dame.«
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung für den Verdacht,« erwiderte ich, »Sie werden aber gewiß eine Entschuldigung für mich finden. Das ausgezeichnete System, mit dem Sie Ihre Anstalt leiten, ist in Paris bekannt, und ich hielt es daher gut für möglich – Sie verstehen...«
»Ja, ja – es bedarf keiner Worte – oder vielmehr sollte ich Ihnen danken für die liebenswürdige Klugheit, mit der Sie vorgingen. Wir finden selten so viel Verständnis bei jungen Leuten, und mehr als einmal kam es infolge der Gedankenlosigkeit unserer Besucher zu unerquicklichen Szenen. Als mein früheres System noch ausgeübt wurde und meine Patienten die Erlaubnis hatten, frei umherzugehen, wurden sie oft durch unvernünftige Leute, die das Haus besichtigen wollten, zu gefährlicher Wut gereizt. Seitdem habe ich mich genötigt gesehen, für strenge Abgeschlossenheit zu sorgen, und keiner erhielt Einlaß, auf dessen Bedachtsamkeit ich mich nicht verlassen konnte.«
»Als Ihr früheres System angewandt wurde?« wiederholte ich seine Worte. »Soll ich das dahin verstehen, daß das ›Besänftigungssystem‹, von dem ich schon so viel gehört habe, jetzt nicht mehr in Anwendung kommt?«
»Seit einigen Wochen«, erwiderte er, »haben wir beschlossen, es endgültig aufzugeben.«
»In der Tat? – Sie setzen mich in Erstaunen!«
Er seufzte. »Es erwies sich leider als dringend nötig, mein Herr, zu den alten Gebräuchen zurückzukehren. Die Gefahren des Besänftigungs-Systems waren immer sehr große, und seine Vorteile sind entschieden überschätzt worden. Wenn je – so ist es gerade in diesem Hause reichlich zur Anwendung gekommen; wir haben alles getan, was vernunftgemäße Rücksichtnahme tun konnte. Es tut mir leid, daß Sie uns nicht schon früher einmal besucht haben, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Ich vermute aber, Sie kennen das Besänftigungs-System – seine praktische Anwendung?«
»Nicht ganz. Was ich davon weiß, habe ich aus dritter, vierter Hand.«
»Das System läßt sich also gemeinhin als eines bezeichnen, das den Patienten rücksichtsvoll behandelt. Wir widersprachen den Einbildungen der Irren nicht. Im Gegenteil: wir duldeten sie nicht nur, sondern unterstützten sie sogar, und wir haben auf diese Weise unsere erfolgreichsten Kuren zustande gebracht. Kein Argument wirkt so nachhaltig auf die schwache Vernunft des Irren, wie das Ad-absurdum-geführt-werden. Zum Beispiel hatten wir Leute, die sich für Hühner hielten. Die Kur bestand nun darin, dies als Tatsache zu nehmen, den Patienten, der diese Tatsache nicht genügend anerkannte, für dumm zu erklären und ihm eine Woche lang jede andere Nahrung als die den Hühnern angemessene zu verweigern. Auf diese Weise konnte ein wenig Korn und Sand Wunder vollbringen.«
»Doch war diese Nachgiebigkeit alles?«
»Keineswegs. Wir hielten viel auf harmlose Zerstreuungen, wie Musik, Tanz, gemeinsame gymnastische Übungen, Kartenspiel, Lektüre usw. Wir behandelten einen jeden auf irgendein physisches Leiden hin, und das Wort ›Irrsinn‹ wurde nie gebraucht. Ein Hauptpunkt bestand darin, daß man jeden Irren anhielt, das Tun der andern zu überwachen. Dies Vertrauen in das Verständnis und die Diskretion eines Wahnsinnigen ist es, womit man ihn ganz gewinnen kann. Auf diese Weise konnten wir das kostspielige Wächterpersonal beschränken.«
»Und Sie hatten keinerlei Strafen?«
»Keine.«
»Und Sie haben die Patienten nie isoliert?«
»Sehr selten. Hie und da, wenn es bei irgendeinem zu einer Krisis oder einem Wutanfall kam, sperrten wir ihn in eine abgelegene Zelle, damit er die andern nicht mitreiße, und hielten ihn dort so lange, bis wir ihn den andern wieder zuführen konnten. Mit eigentlichen Tobsüchtigen haben wir nämlich nicht zu tun; die werden gewöhnlich den staatlichen Irrenanstalten zugeführt.«
»Und alles dies haben Sie nun geändert – und wie Sie meinen, zum Guten geändert?«
»Ganz entschieden. Das frühere System hatte seine Nachteile, ja sogar Gefahren. Man hat es nun glücklicherweise in allen Maisons de Santé Frankreichs fallen lassen.«
»Ich bin außerordentlich erstaunt über Ihre Mitteilung,« sagte ich, »da man mir versichert hat, daß es heutzutage im ganzen Lande keine andere Methode der Behandlung Geisteskranker gebe.«
»Sie sind noch jung, mein Freund,« erwiderte mein Wirt, »Und die Zeit wird kommen, da Sie sich über das, was in der Welt vorgeht, ein eigenes Urteil bilden und das Gerede anderer nicht beachten werden. – Glauben Sie nichts von dem, was Sie hören, und nur die Hälfte von dem, was Sie sehen. Was unsere Irrenanstalten anlangt, so ist es klar, daß irgendein Unwissender Ihnen etwas vorgeredet hat. Ich werde mich aber freuen, Sie nach Tisch, wenn Sie sich genügend von Ihrem ermüdenden Ritt erholt haben werden, durch das Haus zu führen und Ihnen ein System zu weisen, das sowohl mir selbst als einem jeden, der es angewendet sah, als das bei weitem erfolgreichste erschienen ist.«
»Ihr eigenes System?« fragte ich – »Ihre eigene Erfindung?«
»Ich bin stolz,« erwiderte er, »Ihre Frage bejahen zu können – wenigstens in gewissem Maße.«
In dieser Weise unterhielt ich mich mit Herrn Maillard ein bis zwei Stunden, während er mich in Hof und Garten herumführte.
»Ich kann Ihnen gegenwärtig meine Patienten nicht zeigen«, sagte er. »Ein empfindliches Gemüt wird von solchem Anblick stets etwas erschüttert; und ich möchte Ihnen den Appetit vor Tisch nicht verderben. Lassen Sie uns zuerst speisen. Ich kann Ihnen Kalb à la Sainte Ménéhould mit Blumenkohl in Sauce velouté vorsetzen – dann ein Glas Clos Vougeot – das wird Ihre Nerven genügend stärken.«
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