Название: Freie Republik Lich - 2023
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Serie
isbn: 9783753191294
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Ich musste laut lachen und sagte: „Und morgen erzähle ich Ihnen ein anderes Märchen, junge Frau.“ Ich ahmte die wichtigtuerische Stimme eines Christdemokraten nach, wenn er sich besonders versiert fühlt. Wenn ich mich recht erinnere, traf ich die sonore Stimme des Herrn Altmaier.
Stella ergänzte: „Und wenn Sie nicht gestorben sind, Herr Stadtverordneter, dann leben Sie noch lange und dürfen das von Ihnen angerichtete Naturdesaster ausbaden.“
„Naturdesaster?“, warf ich ein. „Wir wissen doch nichts! Rein gar nichts. Da sollten wir das Inferno nicht an die Wand malen!“
Stella schaute mich an und sagte trocken: „110.000 Quadratmeter!“
„Bin ja nicht begriffsstutzig“, entgegnete ich. „Dafür sind Ausgleichsflächen vorgesehen, glaube ich.“
„Hier in Lich?“
„Was weiß ich.“
„Wo etwas gelagert und verteilt wird, wird etwas angeliefert und abgeholt. Ein dauerndes Kommen und Gehen. Machen das die unsichtbaren Geisterfahrzeuge der Heinzelmännchen?“
Ich stöhnte auf. Sie hatte ja, wie immer, so recht. Wir gingen zum Schmusen ins Wohnzimmer. Urlaub eben. Wenigstens ein- oder zwei- oder drei Mal im Jahr, sorry, ich meine natürlich im Monat. Wir waren eingeschlafen und als wir eine Stunde später aufwachten, erinnerten wir uns der Gewitterwolken und eilten nach draußen, denn wir hatten vor lauter liebesbedürftigem Eifer vergessen, den Tisch abzuräumen und den Sonnenschirm zusammenzuklappen. Aber alles war trocken und windstill, und der italienische Chianti stand immer noch stolz und aufrecht neben meinem Glas. Stella und ich blickten zeitgleich nach oben Richtung Osten – der Himmel war hellblau und völlig frei von irgendwelchen Wolken.
Komisch, dachte ich. Sehr komisch.
Genau eine Woche später, am 12. Juli, erschien ein erster offizieller Hinweis auf das geplante neue Verteilzentrum im Licher Wochenanzeiger: »Lagerhallen statt Ackerflächen – SPD nimmt Entwicklung der Gewerbegebiete in Blick – Unfallschwerpunkt auf B467 durch mehr LKW?«
Ich las den Artikel durch, mehr widerwillig als interessiert. Da standen nun tatsächlich die 110.000 Quadratmeter drin und fünfhundert neue Arbeitsplätze würden geschaffen und die Stadt würde zwei Millionen Verlust durch den Verkauf der Fläche wettmachen – ein Verlust, der ihr durch die unbewirtschaftete Natur dort entstehe. Unbewirtschaftete Natur verursacht Kosten?, zuckte es durch meinen Kopf.
„Verstehe das wer will“, sagte ich zu Stella.
„Versteht kein Mensch! Wer hat da wieder irgendwelche Zahlen zusammengerechnet, um auf ein ominöses Minus von zwei Milliönchen zu kommen? Nur um damit zu sagen, wir sollten froh sein, wenn da jemand einen Monsterklotz hinbaut. Im Erfinden von Schein-Legitimationen sind unsere bundesdeutschen Politiker traditionell Spitzenklasse! Denk mal an Stuttgart 21 oder andere Monsterwerke!“
„Bürgermeister Groß meint sogar, ein 24-Stunden-Betrieb sei möglich. Das wäre ja … uiii … Will ich gar nicht dran denken!“
„Steht das da drin?“
„Genau, und da steht noch etwas: Der Bürgermeister möchte das gesamte Areal von 20,5 Hektar am liebsten auf einen Schlag an den Mann bringen. Und zwar an einen einzigen Mann.“
„Er denkt da wohl an Jeff Bezos, den Chef von Amazon“, sagte Stella und grinste verschwörerisch. „Meinst du das funktioniert?“
„Amazon wird eine Nummer zu groß sein, aber wer weiß! Ob das funktioniert mit dem »einen Schlag an einen Mann«? Der Bürgermeister bejaht das. Mr. Groß ist sich zu achtzig Prozent sicher, dass das klappt. Er hofft, dass schon nach der Sommerpause der Kaufvertrag mit irgendeinem Großinvestor abgeschlossen werden kann.“
„So schnell? Das geht doch gar nicht! Müssen da nicht andere Gremien mitentscheiden?“, stieß Stella ungläubig hervor, und sie sah mich – ich kann es nicht anders beschreiben – entsetzt an. „Solche Verfahren mit all den notwendigen Umwelt- und Bauauflagen dauern doch normaler Weise einige Jahre, und die Bürger erhalten ausreichend Zeit, um Einwände zu erheben. Das muss doch rechtsstaatlich ablaufen!“
„Sieht mir aber eher nach Hauruck-Verfahren aus, als wolle man etwas hinter dem Rücken der Bürger durchpeitschen“, antwortete ich.
„Wer ist eigentlich der besagte Investor?“, fragte Stella.
„Steht nirgendwo. Scheint ein Betriebsgeheimnis zu sein.“
Bei nächster Gelegenheit fragte ich Andrea, Stellas beste Freundin, die einen schnuckeligen, schicken Schuhladen namens »Schuhsalon« betrieb. „Hast du etwas über den geheimnisumwitterten Investor gehört?“
Obwohl Andrea jede Menge Kundenkontakte hatte, war sie ratlos. „Scheint ein Rätsel zu sein, an das der kleine dumme Bürger erst in Kreuzworträtselform herangeführt werden muss“, meinte sie augenzwinkernd.
Auch Stella selbst hatte sich in der Zwischenzeit umgehört, konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, wer gemeint sei. So vergingen die Monate, bis ich am letzten Tag im November zufällig im Licher Wochenanzeiger einen Leserbrief entdeckte.
»110.000 Quadratmeter groß und 20 Meter hoch! Wer braucht so ein Monster?«
Unser Lich ist eine wunderschöne historische Kleinstadt – und jetzt das! Man will uns ein bauliches Monstrum mit einer Höhe von 20 Metern vor die Nase setzen, mit all den sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Nebenwirkungen. Glauben Sie nicht? Aber bitte: Fragen Sie doch Ihren Arzt oder Apotheker!
Der Bürgermeister verlässt uns zwar im nächsten Jahr, aber sein monströses Vermächtnis wird uns damit immer vor Augen bleiben. Er will jetzt schnell noch alles unter Dach und Fach bringen. Will er auch seine Schäfchen ins Trockene bringen? Lässt er uns Bürger noch genügend Zeit mitzuentscheiden? Haben unsere gewählten Vertreter genügend Zeit zur sachlichen Prüfung? Ich empfehle den Stadtverordneten einen Besuch in Nieder-Mockstadt. Hier steht nämlich ein abschreckendes Beispiel für ein Hochregallager. Fragen Sie die dortigen Bürger nach dem LKW-Verkehr! Dann weiß man, was uns hier erwartet. Verhindern Sie, verehrte Abgeordnete, eine falsche Entscheidung, bevor es zu spät ist.
Wir sollten den Focus auf das, was unsere Stadt wirklich ausmacht, nicht verlieren. Lich ist keine Industriestadt. Es geht um den Werterhalt von historischem Kulturgut, um eine lebenswerte Umwelt, eine intakte Natur – es geht um unsere Lebensqualität.
Edith Neuer-Süß
Wer so engagiert für sein Städtchen eintrat, wusste gewiss etwas über den Investor zu sagen, wenn …, tja, wenn inzwischen zumindest der Name bekannt war. Also beschloss ich, die Dame anzurufen. Vielleicht wusste sie Näheres. Aber da erhielt ich einen dringenden Rechercheauftrag von meinem Verlag – es ging um die vielbesungene Pressefreiheit und den Fall Julian Assange – und so vergingen drei Wochen, bis ich Frau Neuer-Süß endlich an der Strippe hatte.
„Ich glaube, wenn ich meinem Informanten vertrauen kann, dass der Großinvestor, von dem der Bürgermeister so lange schon geheimnisumwittert spricht, »Wüst AG« heißt. Aber man kann der Sache nicht trauen. Es ist jedenfalls noch nicht offiziell“, sagte sie mit einer durchaus freundlichen Telefonstimme.
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