Freie Republik Lich - 2023. Stefan Koenig
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Название: Freie Republik Lich - 2023

Автор: Stefan Koenig

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Zeitreise-Serie

isbn: 9783753191294

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СКАЧАТЬ jenem Jahr arbeitete ich in einem Licher Verlag und übernachtete gelegentlich bei meiner Freundin. Sie hatte eine Wohnung inmitten der historischen Altstadt. Stella und ich saßen beim Mittagessen auf ihrem Balkon. Wir schauten über die Dächer von Lich in östlicher Richtung des niedlichen Wiener Cafès, das sich unterhalb des Wohnhauses befand. Dort gab es die leckersten Torten, aber Stella und ich achteten auf unsere Linie. In diesem Sinne waren wir absolut linientreu. Ansonsten waren wir, wenn man so will, Freigeister.

      Es war Donnerstag, der 5. Juli, die Sonne brannte vom Himmel, und ich freute mich wie ein Zaunkönig – wenn denn Zaunkönige sich wirklich und sichtbar freuen können. Ich freute mich, weil Stella heute nicht im Geschäft sein musste. Endlich mal Zeit für uns zwei.

      Sie war Optikerin mit Herz und Seele und hörte sich täglich die Lebensgeschichten der Kundschaft geduldig an. Aber seit zwei Wochen war ihre Kraft erschöpft. Den letzten erholsamen Urlaub – es war ein Kurzurlaub von sieben Tagen – hatte sie um die Osterzeit herum genehmigt bekommen. Ab heute konnte sie reinen Gewissens für ganze zwei Wochen ihren anstrengenden Aufgaben fern bleiben. Ihre Vertretung war geregelt.

      Ich hatte gerade in zwanzigminütiger Vorarbeit ein italienisches Menü mit Spaghetti Carbonara sowie einen Tomatensalat mit Mozzarella und Basilikum zubereitet, wozu wir einen Rotwein tranken. Urlaubszeit eben.

      Auch ich hatte mir für ein paar Tage freigenommen, was man als Freiberufler mühelos hinkriegt, wenn man als freischaffender Künstler und Honorar-Mitarbeiter eines Verlages sowieso ein vogelfreies Leben führt. Vogelfrei. Haben Sie darüber einmal nachgedacht? Man sagt: „Frei wie ein Vogel.“ Aber kann man einen Vogel frei nennen?

      Es ist richtig, er hat Flügel, die ihn über Wälder, Seen und Berge tragen. Wenn im Herbst die Zugvögel, Störche, Kraniche und andere gen Süden fliegen, beneidet sie mancher von uns und denkt: „Glückliche Vögel – fliegen, wohin sie wollen!“

      Aber ist es so? Machen die Vögel diese weiten Flüge, weil sie, wie wir, das Reisen lieben? Weil sie „Reisefreiheit“ genießen? Mein Gott, ich schweife ab. Aber genau darüber habe ich mich fünf Jahre später, in der Zeit unserer Freien Republik, mit dem damals fast 86-jährigen Ludwig Henrich, einem alteingesessenen Licher Bürger, unterhalten. Ich lernte ihn bei einer Bürgerinitiative kennen, ein sehr engagierter Mann, trotz – oder wegen? – seines hohen Alters. Vielleicht komme ich auf das Thema mit der Freiheit und den Vögeln zurück.

      Aber was heißt vielleicht? Ich muss darauf zurückkommen – es war einer der strittigen Punkte in unserem neuen Bürgerparlament. Und es hatte weiß Gott mit dem Logistikzentrum zu tun.

      Stella und ich saßen da und genossen das herrliche Wetter, den Blick ins Weite, das Essen und die Ruhe. Stella erklärte mir, in welcher Himmelsrichtung das Kloster Arnsburg und in welcher mein Sportstudio in Hungen liege. Sie deutete nach Osten und sagte: „Hier kann man gut über die Langsdorfer Höhe radeln. Auf einem ausgebauten Fahrradweg geht’s direkt zu deinem Sportpark, und von dort aus kann man in zehn Minuten weiter zum Inheidener Badesee fahren.“

      „Sollten wir mal machen“, antwortete ich.

      „Allerdings haben wir das Waldschwimmbad gerade hier um die Ecke“, sagte sie schmunzelnd.

      „Bist wohl ein bissi faul.“

      „Bei dem schwülen Wetter schon“, gestand sie.

      Ich prostete Stella zu, wir stießen an und nahmen einen Schluck Chianti. Ich sah Stella nachdenklich an, während sie versonnen auf ihr Glas schaute. Chianti, mein guter traditioneller Lieblingsrotwein, noch aus der Zeit, als die erste Pizzeria in Deutschland eröffnet worden war. Aber Stella hatte diese Zeit nicht erlebt, uns trennen fast fünfundzwanzig Jahre.

      Auch ich schaute jetzt auf mein Glas, fast ein wenig betreten wegen der immer wieder aufkommenden Gedanken, wenn mir unser Altersunterschied bewusst wurde. Unsere Gläser waren halbleer oder halbvoll; hier griff wieder einmal das Sprichwort vom Blickwinkel. Was wir kurze Zeit später sahen, war jedoch – ich möchte es vorweg betonen – nicht diesem Gläschen Rotwein geschuldet.

      Ich liebe das italienische Essen und Stella nicht minder. Als Dessert holte ich in der gegenüber liegenden Eisdiele das von meinen italienischen Freunden selbst kreierte Stracciatella-Eis; einfach köstlich. Als ich in unserer Lounge-Ecke neben meiner Liebsten auf dem Balkon wieder Platz genommen hatte, sah ich das erste Mal diese komische Naturerscheinung. Und plötzlich spürte man sie auch. Wie aus heiterem Himmel fauchte ein Wind durch die Bäume, und am Horizont zog blitzschnell auf breiter Front ein rabenschwarzes Gewitterband auf. Es war plötzlich einfach da. Und dann bewegte es sich langsam aber stetig auf uns zu. Kurze Zeit später schien es dort, wo es war, zu verharren. Der starke Wind legte sich abrupt. Jetzt lastete mit einem Mal wieder diese drückende Hitze auf uns.

      „Diese Gewitterfront ist uns jetzt ziemlich nahe“, meinte Stella.

      „Das Wolkenband dürfte genau über der Langsdorfer Höhe liegen“, antwortete ich.

      Gerüchteweise hatte Stella vor zwei Tagen von einem ihrer älteren Dauerkunden, einem siebzigjährigen Stadtverordneten, etwas unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit erfahren. Optiker, Physiotherapeuten und andere Gesundheitshandwerker sind mehr oder minder psychologische Ratgeber. Und sie sind – ähnlich wie Ärzte – hervorragende Ausheul-Objekte. Manche Patienten beziehungsweise Kunden tun sich, nebenbei bemerkt, auch gerne etwas wichtig. Der Christdemokrat Detlef Hofbauer saß als Vorsitzender des städtischen Bauausschusses an einer der entscheidenden Stellen. Zweifellos ein wichtiger Mann.

      „Er muss ja schließlich wissen, ob die Sache Hand und Fuß hat“, antwortete Stella auf meine Frage, ob das ernst gemeint sei. Ein großes Bauvorhaben sei am Start – und zwar ginge es genau um jenen Naturabschnitt, über dem jetzt das furios anmutende Gewitterband drohend zum Stillstand gekommen war. Ein Lager- und Verteilzentrum mit 110.000 Quadratmetern Lagerfläche sei dort geplant.

      „So viele Quadratmeter? Du hast dich gewiss verhört“, sagte ich ungläubig.

      „Keine Ahnung. Aber damit du es weißt: Ich höre eigentlich sehr gut. Die Sache, so sagte er, würde noch intern diskutiert. Deshalb habe er mir dies lediglich »inoffiziell« mitgeteilt, wie er es ein wenig nebulös formulierte.“

      Stella schaute mich abwartend an, aber ich starrte gebannt in den Himmel. Das merkwürdige Wolkenband bewegte sich keinen sichtbaren Meter. Natürlich kann man das auf solch eine Entfernung nicht wirklich exakt feststellen. Aber ich hatte mir die Kreuzspitze auf dem Turm der Sankt Paulus Kirche gemerkt. Die Wolken hingen immer noch genau in der alten Position wie festgenagelt.

      Ich schaute zu Stella, die jetzt einen fast prüfenden Blick auf mich warf. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte ihr nicht zugehört. Aber Zuhören war eine meiner Spitzeneigenschaften. „Und weiter?“, fragte ich.

      „Na ja, ich hätte ja dort kein Grundstück, wie er wüsste, und damit sei ich keine der Betroffenen, die unberechtigter Weise gleich in Panik ausbrechen würden. Deshalb möge ich bitte kein Wort gegenüber anderen äußern und so weiter. Außerdem glaube er, dass ich gewiss die Schaffung neuer Arbeitsplätze befürworte. Auch gegen eine grandiose Erhöhung der Gewerbesteuereinnahmen für die Stadt und somit für uns Bürger habe ich sicherlich nichts einzuwenden.“

      „Du hast zustimmend genickt, wie ich dich kenne“, warf ich ein.

      „Na klar. Deshalb war er ja sehr gesprächig und unterbreitete mir dabei tatsächlich so etwas wie eine Familienplanung, die er mir subtil ans Herz legte. Später, zu einer Zeit, wenn ich vielleicht einmal eine Familie gründen und Kinder haben würde – na, СКАЧАТЬ