Er war in einen breiteren Gang gekommen. Zwei Frauen, eine kleine Alte und eine lange Dürre, gingen plaudernd an ihm vorbei zu den Hallen.
»Sie wollen Ihre Einkäufe machen, Mademoiselle Saget?« fragte die lange Dürre.
»Oh, Madame Lecœur, wenn man so sagen kann ... Sie wissen ja, eine alleinstehende Frau. Ich lebe von nichts ... Ich wollte einen kleinen Blumenkohl kaufen, aber alles ist so teuer ... Und was kostet heute die Butter?«
»Vierunddreißig Sous ... Ich habe sehr gute. Wenn Sie zu mir herankommen wollen ...«
»Ja, ja, ich weiß nicht, ich habe noch ein bißchen Fett ...«
Mit einer übermenschlichen Anstrengung folgte Florent den beiden; er erinnerte sich, den Namen der kleinen Alten von Claude in der Rue Pirouette gehört zu haben, und nahm sich vor, sie anzureden, wenn sie die lange Dürre verlassen hätte.
»Und Ihre Nichte?« fragte Fräulein Saget.
»Die Sarriette tut was ihr gefällt«, antwortete Frau Lecœur bitter. »Sie wollte sich selbständig machen. Das geht mich nichts mehr an. Wenn die Männer sie dann ausgenommen haben, wird sie von mir auch kein Stück Brot bekommen.«
»Sie waren so gut zu ihr ... Sie müßte doch Geld verdienen; Obst bringt in diesem Jahr immerhin etwas ein ... Und Ihr Schwager?«
»Ach der ...!« Frau Lecœur kniff die Lippen zusammen und schien nichts weiter sagen zu wollen.
»Immer noch derselbe, wie?« fuhr Fräulein Saget fort. »Ist mir schon der Richtige ... Ich habe mir sagen lassen, daß er sein Geld in einer Weise durchbringt ...«
»Weiß man denn, ob er sein Geld durchbringt?« entfuhr es Frau Lecœur. »Ein Geheimniskrämer ist er, ein knickeriger Kerl, ein Mann, sehen Sie, Mademoiselle, der mich eher verrecken ließe, als daß er mir hundert Sous leihen würde ... Er weiß sehr gut, daß Butter ebenso wie Käse und Eier in dieser Jahreszeit nicht gehen. Er dagegen kann soviel Geflügel verkaufen, wie er will ... Na, nicht ein einziges Mal hat er mir seine Hilfe angeboten. Ich bin zu stolz, etwas anzunehmen, verstehen Sie, aber ich hätte mich doch darüber gefreut.«
»Ach, da ist ja Ihr Schwager«, bemerkte Fräulein Saget leise.
Die beiden Frauen drehten sich um und blickten jemandem nach, der den Fahrdamm, überquerte und in die große überdachte Straße ging.
»Ich habe es eilig«, murmelte Frau Lecœur. »Ich habe meinen Stand allein gelassen. Außerdem will ich nicht mit ihm reden.« Auch Florent hatte sich unwillkürlich umgedreht. Er erblickte einen kleinen, untersetzten, vergnügt aussehenden Mann mit grauen, bürstenartig geschnittenen Haaren, der unter jedem Arm eine fette Gans trug, deren Kopf herunterhing und ihm beim Gehen gegen den Schenkel schlug. Und plötzlich machte Florent vor Freude eine Handbewegung, und seine Müdigkeit vergessend, lief er hinter dem Mann her. Als er ihn erreicht hatte, rief er:
»Gavard!« und klopfte ihm auf die Schulter.
Der Mann hob den Kopf, musterte mit überraschter Miene diese lange schwarze Gestalt, die er nicht wiedererkannte. Mit einem Male rief er dann in höchster Überraschung:
»Sie! Sie! Wie, Sie sind das!« Beinahe hätte er seine fetten Gänse fallen lassen. Er konnte sich nicht beruhigen. Als er aber seine Schwägerin und Fräulein Saget gewahrte, die von weitem neugierig dieser Begegnung beiwohnten, begann er weiterzugehen und sagte: »Wir wollen hier nicht stehenbleiben, kommen Sie ... Es gibt zu viele Augen und Zungen.«
Und in der überdachten Straße sprachen sie miteinander. Florent erzählte, daß er in der Rue Pirouette gewesen war. Gavard fand das sehr komisch; er lachte viel und berichtete, daß Florents Bruder Quenu umgezogen sei und ein paar Schritt weiter in der Rue Rambuteau gegenüber den Markthallen seinen Fleischerladen wieder eröffnet habe. Ungeheuren Spaß machte es ihm, zu hören, daß Florent während des grauen Morgens mit Claude Lantier herumgelaufen war, diesem komischen Kauz, der ausgerechnet der Neffe von Frau Quenu war. Er wollte Florent sogleich zu dem Fleischerladen bringen. Als er dann erfuhr, daß Florent mit falschen Papieren nach Frankreich zurückgekehrt war, setzte er allerlei geheimnisvolle und ernste Gesichter auf. Er wollte in fünf Schritt Abstand vor ihm gehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Nachdem sie die Geflügelhalle durchschritten hatten, wo er seine beiden Gänse in seinem Stand aufhängte, überquerte er die Rue Rambuteau, immer gefolgt von Florent. Dort wies er ihm in der Mitte des Fahrdamms mit einem Augenzwinkern einen großen und ansehnlichen Fleischerladen.
Die Sonne fiel schräg in die Rue Rambuteau und entflammte die Häuserfronten, zwischen denen der Eingang zur Rue Pirouette ein schwarzes Loch bildete. Am anderen Ende stand ganz golden wie ein riesiger Reliquienschein im Sonnenstaub das große Kirchenschiff von SaintEustache. Und mitten durch die lärmende Menge rückte von der Straßenkreuzung her in einer Linie und mit regelmäßigem Besenschwingen ein Heer von Straßenfegern vor, während Kehrichtsammler mit der Forke den Unrat in Karren warfen, die alle zwanzig Schritt mit einem Klirren hielten, als werde Geschirr zerschlagen. Aber Florent achtete nur auf den großen offenen und in der aufgehenden Sonne flammenden Fleischerladen.
Der Laden bildete fast die Ecke der Rue Pirouette. Es war eine Freude, ihn anzusehen. Er lachte ganz hell mit lebhaften Farbtupfen, die im Weiß des Marmors sangen. Das Schild, auf dem in einer Umrahmung von Zweigen und Blättern, auf mattem Grund gezeichnet, in großen goldenen Lettern der Name QUENUGRADELLE leuchtete, war eine mit Glas überdeckte Malerei. Die beiden Seitenfüllungen des Ladenfensters, gleichfalls bemalt und unter Glas, stellten pausbäckige Amoretten dar, die inmitten von Schweinsköpfen, Koteletts und Würstchengirlanden spielten; und diese mit Schnörkeln und Rosetten geschmückten Stilleben waren von einer so aquarellähnlichen Zartheit, daß das rohe Fleisch dazwischen rosige Tönungen von Konfitüren annahm. In dieser lieblichen Umrahmung war die Auslage aufgebaut. Alles war auf Unterlagen aus zurechtgeschnittenem feinem blauem Papier gebettet; stellenweise verwandelten sinnreich angeordnete Farnblätter einzelne Teller in Sträuße, die von Grün umgeben waren. Es war eine Welt von guten Dingen, von saftigen Dingen, von fetten Dingen. Zunächst stand ganz unten an der Scheibe eine Reihe Töpfe mit feingehacktem und in Schmalz gebratenem Schweinefleisch, dazwischen Töpfe mit Mostrich. Oberhalb davon kamen ausgebeinte Geflügelkeulen mit ihrem hübsch runden Gesicht, gelb wie geriebene Brotrinde, und ihrem in einen grünen Pompon auslaufenden Beinstück. Dann folgten die großen Platten: die nappierten Straßburger Zungen, die mit der roten Glasur ihrer Haut blutig wirkten neben den bleichen Würstchen und Schweinefüßen; die schwarzen, wie gutmütige Nattern zusammengerollten Blutwürste; die paarweise aufeinandergestapelten, vor Gesundheit strotzenden Bratwürste; die Dauerwürste, die in ihrem Silberornat steifen Kirchensängern glichen; die Pasteten, die noch ganz warm waren und die Fähnchen ihrer Etiketts trugen; die dicken Schinken, die großen gefrorenen Stücke Kalb und Schwein, deren Gelee durchsichtig wie Zuckerkandis war. Ferner standen da geräumige Schüsseln, auf deren Boden Fleischstücke und Gehacktes in geronnenem Fett schlummerten. Zwischen die Teller und Platten waren auf der Unterlage aus blauem zurechtgeschnittenem Papier Gefäße mit eingemachten Früchten, mit durchgeseihter Kraftbrühe, eingelegten Trüffeln, Schüsseln mit Gänseleber und schillernde Büchsen mit Thunfisch und Sardinen verstreut. Ein Kasten mit Milchkäse und ein anderer mit in Kräuterbutter angemachten und wieder ins Gehäuse gestopften Weinbergschnecken waren nachlässig in die beiden Ecken gestellt. Schließlich hingen ganz oben von einem Gestänge mit Wolfszähnen Ketten von Bratwürsten, Dauerwürsten und Zervelatwürsten symmetrisch herab und glichen Schnüren und Quasten reicher Wandbehänge, während dahinter Fettnetzstücke ihre Spitze, ihren Untergrund weißer und fleischiger Stickerei setzten, und dort auf dem letzten Aufsatz dieser Kapelle des Bauches wurde zwischen zwei Sträußen purpurner Gladiolen und inmitten der Fettnetzstücke der Prozessionsaltar gekrönt durch ein viereckiges, mit Muscheln verziertes Aquarium, СКАЧАТЬ