Название: Altneuland
Автор: Theodor Herzl
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754183144
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»Dann gestatten Sie mir vielleicht,« fuhr der Fremde fort, »daß ich Ihren Irrtum berichtige. Von der jüdischen Nation ist mehr übrig geblieben als die alten Quadern dieses Mauerstückes und als die armen Schlucker hier, die freilich kein schönes Handwerk betreiben. Sie dürfen die jüdische Nation in heutiger Zeit weder nach ihren Bettlern noch nach ihren Reichen beurteilen.« »Ich bin kein Reicher,« meinte Friedrich.
»Ich sehe, was Sie sind: ein Fremder Ihrem Volke. Wenn Sie einmal zu uns nach Rußland kämen, würden Sie erkennen, daß es noch eine jüdische Nation gibt. Wir haben noch eine lebende Überlieferung, eine Liebe zur Vergangenheit und einen Glauben an die Zukunft. Bei uns sind die Besten und Gebildetsten dem Judentume als einer Nation treu geblieben. Wir wollen zu keiner anderen gehören. Wir sind, was unsere Väter waren.«
»Das ist recht,« rief Kingscourt. Friedrich zuckte leicht die Achseln, sprach aber noch einige höfliche Worte mit dem Unbekannten, dann gingen sie. Als sie am anderen Ende der Gasse waren und um die Ecke bogen, blickten sie zurück. Der russische Jude stand noch dort. Er war in ein stummes Gebet vor der Klagemauer versunken.
Abends, in dem englischen Hotel, in dem sie wohnten, sahen sie ihn wieder. Er saß bei Tische neben einer jungen Dame, offenbar seiner Tochter. Nach dem Essen traf man sich in der großen Halle. Das Gespräch von Vormittag wurde zwanglos wieder aufgenommen. Der Russe nannte seinen Namen: Dr. Eichenstamm. »Ich bin meines Zeichens Augenarzt. Meine Tochter auch«.
»Wie? Das Fräulein ist ’n Doktor?« fragte Kingscourt. »Ja, sie hat bei mir und nachher in Paris studiert. Sie ist jetzt meine Assistentin. Ein ganz gelehrtes Haus, meine Sascha!«
Das Fräulein Doktor errötete bei dem Lobe. »Aber Papa!« sagte sie abwehrend. Dr. Eichenstamm fuhr sich mit der Linken über den langen grauen Kinnbart: »Was wahr ist, kann man sagen. Wir sind auch nicht nur zum Vergnügen hier, meine Herren. Wir beschäftigen uns mit den Augenkrankheiten. Leider gibt es deren genug. Der Schmutz und die Verwahrlosung rächen sich. Alles liegt im argen. Und wie schön könnte es sein. Das Land ist ja ein goldenes Land.«
»Dieses Land?« sagte Friedrich ungläubig. »Die Geschichte von Milch und Honig ist doch nicht mehr wahr!« »Sie ist immer wahr!« schrie Eichenstamm begeistert »Nur die Menschen müssen da sein, dann ist alles da.«
»Nee! Von Menschen ist gar nichts zu erwarten,« erklärte Kingscourt mit Entschiedenheit.
Doktorin Sascha wandte sich an ihren Vater. »Du solltest den Herren raten, die Kolonien zu besichtigen.« »Was für Kolonien?« erkundigte sich Friedrich.
»Unsere jüdischen Ansiedlungen,« antwortete der alte Herr. »Auch davon wissen Sie nichts, Herr Doktor? Es ist doch eine der merkwürdigsten Tatsachen im modernen Leben der Juden. In verschiedenen Städten Europas und Amerikas haben sich Gesellschaften gebildet, die so genannten Liebhaber von Zion, mit dem Zweck, hier in unserem alten Lande die Juden zu Ackerbauern zu machen. Es gibt schon eine Anzahl solcher jüdischer Dörfer. Auch einige reiche Wohltäter haben der Sache Geld zugewendet. Unser alter Boden trägt wieder Früchte. Besuchen Sie diese Niederlassungen, bevor Sie Palästina verlassen.«
Kingscourt brummte: »Können wir ja machen, wenn Sie Lust haben, Löwenberg.« Friedrich bejahte schnell.
Am ändern Tag unternahmen sie in Gesellschaft Eichenstamms und Saschas einen Ausflug nach dem Ölberge. Vor der Höhe kamen sie an dem eleganten Hause einer englischen Dame vorbei.
»Sie sehen,« sagte der Russe, »daß man auf der alten Erde auch neue Paläste errichten kann. Das ist ein vornehmer Gedanke, hier zu wohnen. Wäre auch mein Traum.«
»Oder wenigstens eine Augenklinik,« meinte Doktor Sascha mit feinem Lächeln.
Vom Ölberge aus bewunderten sie die hügelreiche Stadt, die steinernen Wellen der Berge im weiten Umkreise bis an das Tote Meer. Friedrich wurde nachdenklich.
»Schön muß Jerusalem einst gewesen sein! Vielleicht haben unsere Väter diese Stadt darum nicht vergessen können. Vielleicht wollten sie darum immer zurückkehren?«
Eichenstamm schwärmte: »Mich erinnert es an Rom. Auf Hügeln könnte man abermals eine Weltstadt erbauen, etwas Herrliches. Denken Sie sich den Blick, den man dann von hier aus hätte. Prächtiger als vom Gianiculo! Ach, wenn meine alten Augen das noch sehen könnten!« …
»Das werden wir nicht erleben,« sagte Sascha traurig.
Kingscourt wunderte sich im stillen über diese Phantastereien. Als er wieder mit Friedrich allein war, sprach er: »Das ist ein merkwürdiges Paar, der Doktorsvater mit der Doktorstochter. So praktisch und dabei so närrisch. Ich habe mir die Juden auch anders vorgestellt.«
Am folgenden Morgen nahmen sie Abschied von den beiden und fuhren richtig, deren Rat befolgend, nach den Kolonien. Sie sahen die Ortschaften Rischon leZion, Rechoboth und andere, die als Oasen in der verdorrten Umgebung lagen. Viele fleißige Hände hatten sich da regen müssen, bis die Scholle wieder zum Leben erwacht war. Sie sahen wohlbebaute Felder, eine stattliche Weinkultur und üppige Orangengärten.
»Das ist alles in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren entstanden,« erklärte ihnen der Vorsteher der Judenkolonie Rehoboth, an den sie von Eichenstamm empfohlen worden war. »Nach den Verfolgungen in Russland zu Anfang der achtziger Jahre hat diese Bewegung begonnen. Es gibt aber noch verdienstlichere Kolonien als unsere. Zum Beispiel die von Katrah. Die ist von studierten Leuten angelegt worden. Sie haben die Bücher verlassen und sind auf den Acker hinausgezogen. Solche Bauern gibt es wohl nirgends auf der Welt. Gelehrte Männer, die auf dem Felde arbeiten.«
»Das ist ’ne starke Nummer!« rief Kingscourt. Aber noch größer wurde sein Erstaunen, als der Vorsteher die jungen Burschen von Rehowoth zu Pferde steigen ließ. Eine Art arabischer Fantasia wurde vor den Gästen aufgeführt. Die Burschen stürmten weit weg ins Feld hinaus, warfen die Rosse herum, kehrten jauchzend zurück, warfen im vollsten Lauf ihre Mützen oder ihre Gewehre in die Luft, fingen sie wieder auf. Schließlich ritten sie in einer Reihe und sangen ein hebräisches Lied. Kingscourt war hingerissen.
»Da soll doch ein mehrfach gesalzenes Donnerwetter dreinschlagen. Die Kerls reiten ja wie der Deibel! Mit so ’was hätte mein Ur-Ur auch die Attacke bei Roßbach «
Aber Friedrich hatte wenig Interesse für die Betätigungen einer gesunden Lebenslust, und er war froh, als sie die Ansiedelungen verließen, um nach Jaffa zurückzukehren.
Die Jacht war zur Abfahrt bereit. Sie schieden in den letzten Dezembertagen vom besonnten Strande Palästinas und steuerten nach Port Said. In diesem Hafen blieben sie zwei Tage, dann ging es durch den Suezkanal weiter. Am Abend des 31. Dezember 1902 kamen sie ins Rote Meer. Friedrich hatte wieder eine Zeit völliger Niedergeschlagenheit. In dieser Stimmung war ihm alles gleichgültig. Nach Sonnenuntergang rief ihn Kingscourt aufs Verdeck: »Heute, Doktor, wollen wir uns was besonders antun! Da, sehen Sie unsere Tischkarte. Habe auch eine genügende Anzahl Silberhälse in Eis kühlen lassen.«
»Was ist denn heute für ein besonderer Tag, Mr. Kingscourt?« »Das wissen Sie nicht, Mensch? Der letzte Tag des Jahres. Das ist kein banales Datum — wenn Daten überhaupt einen Sinn haben.« »Für uns ist das ohne jede Bedeutung,« sagte Friedrich müde. »Für ans beginnt nun die Zeitlosigkeit, ist es nicht wahr?«
»Jawohl, СКАЧАТЬ