Название: Altneuland
Автор: Theodor Herzl
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754183144
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»Wieviel Kinder haben Sie?«
Der Hausierer begann im Gehen zu schluchzen: »Fünfe hab’ ich gehabt, drei sind mir gestorben, seit wir hier sind. Jetzt hab’ ich nur den da und das kleine Mädel, was noch an der Brust is … David, lauf’ nit so schnell.«
Der Knabe drehte sich um: »Die Mutter war so hungrig, wie ich ihr die drei Kreuzer von dem Herrn da gebracht hab’.«
»So? Sie waren der gute Herr?« sagte der Hausierer und haschte nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.
Friedrich zog die Hand rasch zurück: »Was fällt Ihnen denn ein? … Sag’ mein Junge, was hat deine Mutter mit den paar Kreuzern angefangen?«
»Milch hat sie geholt für Mirjam,« sagte der kleine David.
»Mirjam ist unser anderes Kind,« bemerkte der Hausierer erklärend.
»Und die Mutter hungerte weiter?« fragte Friedrich erschüttert.
»Ja, Herr,« erwiderte David.
Friedrich hatte noch einige Gulden bei sich. Ob er die besaß oder nicht, war ziemlich gleichgültig, da er ohnehin mit dem Leben fertig war. Diesen Leuten konnte er die bitterste Not erleichtern, wenn auch nur für kurze Zeit.
»Wo wohnt Ihr?« fragte er den Hausierer.
»Auf der Brigittenauer Lände. Wir hab’n a Kabinett - aber es ist uns schon gekündigt.«
»Gut, ich will mich überzeugen, ob das alles wahr ist. Ich gehe mit Ihnen nach Hause.«
»Bitte!« sagte der Hausierer. »Sie wer’n ka Vergnüg’n hab’n, gnädiger Herr. Wir lieg’n am Stroh … Ich hab noch in andere Kaffeehäuser gehen wollen. Aber wenn Sie wünschen, geh’ ich zu Haus.«
Sie gingen über die Augartenbrücke der Brigittenauer Lände zu. David, der jetzt neben seinem Vater einher schlich, fragte mit leiser Stimme: »Tate, darf ich ein Stückl Brot essen?«
»Eß nur,« entgegnete der Alte. »Ich werd’ auch ein Stückl essen. Für die Mutter bleibt noch.«
Und nun kauten Vater und Sohn hörbar an dem harten Gebäck, das sie aus ihren Taschen hervorgeholt hatten.
Vor einem hohen, neugebauten Hause an der Lände blieben sie stehen. Das Haus atmete noch den feuchten frischen Baugeruch aus. Der Hausierer zog die Klingel. Alles blieb still. Nach einer Weile zog er wieder den Messingknopf und sagte: »Der Hausmeister weiß schon, wer da is. Da lasst er sich Zeit. Oft steh’ ich da a Stund! Er ist ein grober Mensch. Manchesmal trau’ ich mich gar nit her, wenn ich ihm keine fünf Kreuzer Sperrgeld geben kann.«
»Was tun Sie dann?« fragte Friedrich.
»Dann geh’ ich herum bis in der Früh, bis das Haustor offen is.«
Friedrich ergriff nun selbst den Knopf und riss ein paar Mal heftig die Klingel. Jetzt wurde Geräusch hinter dem Tore vernehmbar. Schlurfende Schritte, Klirren von Schlüsseln, und durch die Ritzen drang ein Lichtschein. Das Tor ging auf. Der Hausmeister hielt ihnen die Laterne entgegen und schrie: »Wer reißt denn so an der Glocke? Was? Die Judenbagasch?«
Der Hausierer entschuldigte sich furchtsam: »Nit ich war es — der Herr da!«
Der Hausmeister schimpfte: »So a Frechheit!«
»Augenblicklich schweigen Sie, Kerl!« herrschte ihn Friedrich an und warf ihm eine Silbermünze vor die Füße.
Als der Hausmeister den Silberklang auf den Fliesen hörte, wurde er kleinlaut und unterwürfig: »Euer Gnaden hab’ i net g’meint. Dö Juden da!«
»Schweigen Sie!« wiederholte Friedrich, »und leuchten Sie mir über die Stiege.«
Der Hausmeister hatte sich gebückt und das Geld aufgehoben. Eine ganze Krone. Das mußte ein vornehmer Herr sein.
»Es is im fünften Stock, gnädiger Herr,« sagte der Hausierer. »Vielleicht borgt uns der Herr Hausbesorger e Stückl Kerzen.« »Dem Littwak burg’ i nix,« rief dieser; »aber wenn Euer Gnaden a Kirzen wolln …«
Er nahm auch gleich das Stümpfchen aus der Laterne und gab es Friedrich. Dann verschwand er brummend. Friedrich stieg mit Littwak und David die fünf Treppen hinan.
Es war gut, dass sie die Kerze mithatten, denn es umgab sie tiefe Nacht. Auch in dem einfenstrigen Stübchen Littwaks brannte kein Licht, obwohl die Frau, die auf einer Streu ihr Lager hatte, wach und aufrecht dasaß. Friedrich sah im Halbdunkel des Kerzenstümpfchens, daß der schmale Raum keinerlei Möbel enthielt. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Schrank. Auf dem Fensterbrett befanden sich einige Fläschchen und zerbrochene Töpfe. Ein Anblick des tiefsten Elends. Die’ Frau hatte ein kleines, wimmerndes Kind an der schlaffen Brust. Sie starrte ihnen hohläugig und angstvoll entgegen.
»Wer ist das, Chajim?« stöhnte sie erschreckt.
»E guter Herr,« beruhigte sie ihr Mann.
David ging zu ihr hin. »Mutter, da is Brot,« und gab es ihr.
Sie brach es mit Mühe und schob sich langsam einen Bissen in den Mund. Sie war recht schwach und abgemagert, aber das verhärmte Gesicht wies doch noch Spuren einer vergangenen Schönheit auf.
»Da wohnen wir,« sagte Chajim Littwak mit bitterem Lachen. »Aber ich weiß. nicht emal, ob wir übermorgen noch das haben werd’n. Sie hab’n uns scho’ gekündigt.«
Die Frau seufzte laut auf. David hatte sich neben sie hin auf das Stroh gekauert und schmiegte sich an sie.
»Wieviel brauchen Sie, um hierbleiben zu können?« fragte Friedrich. »Drei Gulden!« erklärte Littwak. »E Gulden zwanzig auf Zins und das Übrige bin ich der Hausfrau schuldig. Wo soll ich bis übermorgen drei Gulden hernehmen? Dann lieg’n wir mit die Kinder auf der Gass’n.«
»Drei Guld’n!« jammerte die Frau leise und hoffnungslos. Friedrich griff in die Tasche. Er hatte acht Gulden bei sich. Die gab er dem Hausierer.
»Gerechter Gott! Is es möglich?« rief Chajim, und es liefen ihm Tränen über die Wangen. »Acht Gulden! Rebekka! David! Gott hat uns geholfen. Gelobt sei sein Namen!«
Frau Rebekka war auch fassungslos. Sie hatte sich auf die Knie erhoben und schleppte sich zu dem Retter hin. Im rechten Arm hielt sie ihr schlummerndes Wickelkind, mit der Linken haschte sie nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.
Er entzog sich ihrem Danke rasch: »Macht doch keine solchen Geschichten! Für mich sind die paar Gulden gar nichts - ob ich sie habe oder nicht … David kann mir hinunterleuchten.«
Die Frau war auf ihr Lager zurückgesunken und schluchzte bitterlich vor Freude. Chajim Littwak begann ein hebräisches Gebet zu murmeln. Friedrich ging, von David begleitet, hinaus und die Treppe hinunter. Als sie im zweiten Stock waren, hielt David, der die Kerze hoch trug, an, und sagte: »Gott wird aus mir e starken Mann machen. Dann werd’ ich Ihnen zahlen.«
Friedrich СКАЧАТЬ