Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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»So ist's recht! So fahre fort! rief die Stimme. Vollende dein Werk! Vernichte dieses Andenken! Vergiß den Bischof! Vergiß Alles! Verderbe Champmathieu! Sehr gut! Darauf kannst Du stolz sein. Die Sache ist also entschieden beschlossen, abgemacht! Der alte Mann, der nicht weiß, was man von ihm will, der vielleicht nichts Böses gethan, ein Unschuldiger, den dein Name in's Unglück stürzt, auf dem dein Name wie ein Verbrechen lastet, soll an deiner Statt verurtheilt werden, soll sein Leben in Jammer und Elend beschließen! Sehr schön! Bleibe der Herr Bürgermeister, bleibe ein ehrenwerthes und geehrtes Mitglied der guten Gesellschaft, mache die Stadt reich, ernähre die Bedürftigen, erziehe Waisen, sei glücklich, tugendhaft und bewundert. Während Du hier im Lichte und in Freuden lebst, wird ja Einer mit Schande für dich die rothe Jacke tragen, deine Kette herumschleppen! So ist es schön eingerichtet! O Du Nichtswürdiger!«
Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er starrte entsetzt die Leuchter an. Aber die Stimme in ihm fuhr fort:
»Jean Valjean! Es werden sich um dich viel Stimmen erheben, die dich preisen und segnen werden, und nur eine, die Niemand hören, und dich im Dunkel der Verborgenheit verfluchen wird! Nun höre, Du Elender: All die Segenswünsche werden, ehe sie den Himmel erreichen, wieder zurückfallen, und nur der Fluch wird zu Gott emporsteigen!«
Diese – anfänglich schwache – Stimme seines innersten Gewissens war allmählich so gewaltig und schrecklich geworden, daß er sie mit seinem äußeren leiblichen Ohr zu hören glaubte, und sich bei den letzten Worten erschrocken umwandte:
»Ist Jemand hier?« fragte er laut.
Gleich darauf lachte er wie ein Idiot.
»Bin ich dumm! Es kann ja Niemand hier sein.«
Es war doch Einer da, Einer, den Menschenaugen nicht wahrnehmen können.
Er stellte die Leuchter auf das Kamingesims.
Dann nahm er den eintönigen Marsch im Zimmer wieder auf, der den in ihm schlafenden Menschen aus seinen Träumen aufschreckte.
Die körperliche Bewegung that ihm wohl und berauschte ihn zu gleicher Zeit. Es ist, als empfinde man bisweilen in der höchsten Seelenangst das Bedürfniß, alles Mögliche, was man bei einem Gange auf seinem Wege sieht, um Rath zu fragen. Aber nach Verlauf weniger Sekunden wußte Madeleine nicht mehr, wie er bekehrt war.
Jetzt flößten ihm alle beiden Alternativen gleichen Schrecken ein. Welch ein fürchterlicher Zufall! Daß dieser Champmathieu mit einem Mal auftauchen und mit ihm verwechselt wurde! Daß er gerade durch das Mittel, das die Vorsehung anfänglich zu seiner Sicherung gebraucht hatte, jetzt zu Fall gebracht wurde!
Es trat ein Augenblick ein, wo er sich die Zukunft ausmalte. Großer Gott! Wie würde das werden, wenn er sich den Gerichten auslieferte! Mit grenzenloser Verzweiflung zählte er sich Alles auf, was er verlassen und was er wieder aufnehmen sollte. Es handelte sich also darum, dem angenehmen, schönen, glänzenden Dasein, das er geführt hatte, der allgemeinen Achtung, der Ehre, der Freiheit Lebewohl zu sagen! Er sollte nicht mehr auf den Feldern lustwandeln, die Vöglein im Monat Mai nicht mehr singen hören, die Kinder nicht mehr mit Almosen beglücken können! Er sollte nicht mehr die Annehmlichkeit der liebevollen und dankbaren Blicke empfinden, die ihm zu folgen pflegten! Er sollte das Haus, das er gebaut, sein trauliches Zimmer für immer verlassen! Jetzt gefiel ihm Alles so sehr! Er würde nicht mehr in seinen Büchern lesen, nicht mehr an dem kleinen Schreibtisch arbeiten. Die alte Portierfrau würde ihm nicht mehr des Morgens seinen Kaffee heraufbringen. Stattdessen – barmherziger Gott! – das Zuchthaus, das Halseisen, die rothe Jacke, die Kette am Fuß, schwere Arbeit, die Dunkelzelle, das Feldbett; Qualen, die ihm nur zu sehr bekannt waren! In seinem Alter und nachdem er so viel Besseres kennen gelernt hatte! Wenn er wenigstens noch jung gewesen wäre! Aber wenn man alt ist, geduzt, vom Aufseher visitirt werden, von dem Profoß Stockschläge bekommen, mit bloßen Füßen in eisenbeschlagenen Schuhen gehen, jeden Morgen und jeden Abend das Bein dem Hammer des Aufsehers darbieten, der den Eisenring zu untersuchen hat! Ein Gegenstand der Neugierde zu sein für die Fremden, denen man erzählen würde: »Der da ist der berühmte Jean Valjean, der Bürgermeister in Montreuil-sur-Mer gewesen ist.« Am Abend in Schweiß gebadet, todtmüde, die grüne Mütze über den Augen unter der Peitsche des Sergeanten die Treppe zu dem schwimmenden Bagno emporsteigen! Wie grauenvoll! Kann denn das Schicksal boshaft sein, wie ein mit Vernunft begabtes Wesen und ausarten wie das Menschenherz?
Also, wie sehr er auch sein Hirn zermarterte, immer starrte ihm die fürchterliche Frage entgegen, ob er im Himmel bleiben und zu den Teufeln herabsinken oder ob er in die Hölle zurückkehren und ein Engel werden wolle.
Was thun, großer Gott! Was thun?
Der Sturm in seinem Innern, aus dem er sich mit so großer Schwierigkeit gerettet hatte, raste von Neuem los. Seine Begriffe fingen an sich zu verwirren. Sein Hirn wurde dumpf und arbeitete maschinenmäßig, ein Zustand, der bei verzweifelter Gemüthsstimmung einzutreten pflegt. Der Name Romainville nebst zwei Versen eines Liedes, das er ehedem hatte singen hören, tauchte jetzt fortwährend in seinem Gehirn auf. So heißt ein Gehölz bei Paris, wo junge Liebespaare im Monat April Flieder pflücken.
Auch körperlich fühlte er sich jetzt schwach und schwankte beim Gehen, wie ein kleines Kind, das seine ersten Schritte allein macht.
Ab und zu versuchte er wohl gegen seine Ermattung anzukämpfen und die Herrschaft über seine Gedanken wiederzugewinnen. Zum letzten Male und um zu einem endgiltigen Entschlusse zu gelangen, stellte er sich die Frage, die sein Hirn abgemattet hatte: Soll ich mich ausliefern oder schweigen? Er konnte aber zu keiner Klarheit gelangen. Die Ergebnisse seines mühevollen Nachdenkens verloren alle scharfen Umrisse und verflogen in das Nichts, Nur so viel wurde ihm klar: Wie er sich auch entscheiden würde, ein Theil seines Ichs mußte nothgedrungen und unabwendbarer Weise sterben; in ein Grab stieg er immer, ob er sich nach rechts oder nach links wandte; es war mit seinem Glück oder mit seiner Tugend zu Ende,
Ach! die Unschlüssigkeit war wieder da. Er war nicht weiter, als zu Anfang,
So qualvoll rang der Unglückliche mit seinen Zweifeln. Achtzehnhundert Jahre vor ihm hatte in derselben Weise, das geheimnisvolle Wesen, in dem sich alle Tugenden und alle Leiden der Menschheit konzentrirten, umrauscht von den Oelbäumen Gethsemanes lange den Kelch von sich gewiesen, auf dessen Grund sein Auge die dichte Finsterniß der Hölle und das heitere Licht des Himmels schaute.
IV. Die Form, die Seelenqualen während des Schlafes annehmen
Drei Uhr hatte es so eben geschlagen und fünf Stunden lang wandelte er nun schon, fast ununterbrochen, in dem Zimmer auf und nieder, als er endlich auf seinen Stuhl sank und einschlief.
Da hatte er einen Traum, der wie die meisten Träume mit der gegenwärtigen Lage nur eine ganz lose, aber beängstigende Beziehung hatte, aber er machte Eindruck auf ihn, so daß er ihn niederschrieb. Diese Erzählung ist unter seinen andern Papieren aufgefunden worden, und wir halten es der Mühe wert, ihn hier wörtlich wiederzugeben.
Wie man auch über diesen Traum denken möge, – die Geschichte dieser Nacht würde unvollständig bleiben, wollten wir ihn mit Stillschweigen übergehen. Es ist ein düstres Erlebnis eines kranken Gemüths.
Auf dem Umschlag, in dem sich das betreffende Papier befindet, lesen wir die Worte: Der Traum, den ich in jener Nacht gehabt habe.
Die Erzählung lautet folgendermaßen:
»Ich war auf einem großen Felde, einer Einöde, in der kein СКАЧАТЬ