»Gut sagte er, es sei beschlossen! Ich will meine Schuldigkeit thun, ich will ihn retten!«
Diese letzten Worte sprach er ganz laut, ohne es zu bemerken.
Er nahm seine Rechnungsbücher vor, sah sie durch und brachte sie in Ordnung. Dann warf er eine Menge Schuldscheine, die seine Forderungen an kleine Handelsleute belegten, ins Feuer. Hierauf setzte er einen Brief auf, versiegelte ihn und schrieb auf den Umschlag die Adresse: An den Herrn Bankier Laffitte, Rue d'Artois. Paris.
Endlich entnahm er einem Schreibpult ein Portefeuille mit Kassenscheinen und den Paß, den er in demselben Jahr gebraucht hatte, um zur Wahl zu gehen.
Wer ihn hierbei beobachtet, wer seine tiefernste Miene gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was in seiner Seele vorging. Nur von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen; dann hob er wieder das Haupt empor und richtete seinen Blick auf irgend eine Stelle der Wand, als sei dort etwas, das er ergründen oder befragen wollte.
Nachdem er den Brief an Laffitte fertig gemacht, steckte er ihn, wie auch das Portefeuille in die Tasche und fing wieder an auf und abzugehen.
Seine Gedanken hatten keine andre Richtung angenommen. Noch immer stand vor den Augen seines Geistes in lichtvollen Schriftzeichen das Gebot geschrieben: »Geh! Nenne, denunzire dich!«
Desgleichen erkannte er so deutlich, als hätte sie eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt angenommen, ihrem Wesen nach, die beiden Grundsätze, die bisher die Richtschnur seines Lebens gewesen waren: Die Verheimlichung seines Namens und die Heiligung seiner Seele. Zum ersten Mal sah er ein, daß sie durchaus verschieden waren. Er begriff, daß eins dieser Prinzipien ein nothwendig gutes sei, während das andre zum Bösen führen konnte, daß das eine soviel wie Selbstaufopferung, das andre Selbstsucht bedeute; daß das eine dem Licht, das andre der Finsterniß entstammen.
Sie bekämpften sich und er sah diesen Kampf. In dem Maße, wie er über sie nachdachte, waren sie in den Augen seines Geistes größer geworden, zu Kolossen angewachsen, von denen der eine ihm als ein Gott, der andre als ein Titan erschien.
Er war entsetzt, aber es dünkte ihn, daß der edle Grundsatz den Sieg davontrage.
Er fühlte, daß er an dem zweiten Wendepunkt seines innern Lebens und seines äußern Schicksals angelangt sei. Hatte die Begegnung mit dem Bischof den ersten Abschnitt seines neuen Lebens bestimmt, so sollte jetzt die Befreiung Champmathieus' den Anfang der zweiten Periode kennzeichnen. Nach der großen Krisis die große Prüfung.
Indessen trat das Fieber, das einen Augenblick nachgelassen hatte, wieder auf. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn, bestärkten ihn aber nur in seinem Entschlusse.
Eine Zeit lang hatte er den Einwand erhoben, er nahm es vielleicht zu genau, vielleicht verdiene Champmathieu keine Theilnahme, der Mensch sei ja doch nur ein Spitzbube.
Diesen Einwurf widerlegte er sich aber: – Hatte der Mann wirklich ein paar Aepfel gestohlen, so gehörte ihm ein Monat Gefängnis, was sehr verschieden ist von lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Und hat er denn überhaupt gestohlen? Liegen Beweise vor? Der Name Jean Valjean klagt ihn an und erläßt alle Beweise. Verfahren die Staatsanwälte nicht immer so? Sie halten Einen für einen Dieb, weil er Zuchthaussträfling gewesen ist.
Einmal ließ er sich den Gedanken beikommen, wenn er sich den Gerichten stelle, würde man ihm vielleicht die heldenmüthige Selbstüberwindung, und seinen rechtschaffenen Lebenswandel während der letzten sieben Jahre, seine Verdienste um die Stadt anrechnen und Gnade für Recht ergehen lassen.
Aber diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch, und er erinnerte sich mit bittrem Lächeln, daß der Raub der vierzig Sous ihn zu einem rückfälligen Verbrecher stemple. Dieser Fall würde sicherlich anhängig gemacht werden und dann verfiel er dem klaren Wortlaut des Gesetzes gemäß, einer Verurtheilung zu lebenslänglichem Zuchthaus.
Er entsagte also jedweder trügerischen Hoffnung, lenkte seinen Sinn mehr und mehr von allem Irdischen ab und suchte anderswo Trost und Kraft. Er sagte sich, er müsse seine Schuldigkeit thun, vielleicht würde er nach Erfüllung seiner Pflicht nicht unglücklicher sein, als wenn er sie umginge; wenn er die Dinge ihren Gang gehen ließe, wenn er in Moatreuil-sur-Mer bleibe, würde sein guter Ruf, seine guten Werke, die Hochachtung und Verehrung, die man ihm zollte, sein Reichthum, die Beliebtheit, der er sich erfreute, seine Tugendhaftigkeit durch ein Verbrechen entwertet sein. Vollbringe er aber das Opfer, so würde ihm das Leben im Zuchthaus mit dem Halseisen, der Kette, der grünen Mütze, der harten Arbeit, der Schande, und Verachtung durch den Gedanken an den Himmel versüßt werden.
Die Erwägung so vieler schrecklicher Zweifel schwächte nicht seinen Muth, ermüdete aber sein Gehirn. Wider Willen verfiel er auf andre, unwichtigere Gedanken.
Das Blut hämmerte heftig in seinen Schläfen und er ging noch immer auf und ab. Jetzt schlug die Kirchthurmuhr, dann die Uhr des Rathhauses Mitternacht. Er zählte beide Male die Schläge und verglich den Ton der Glocken. Ja, es fiel ihm sogar der höchst gleichgültige Umstand ein, daß er vor einigen Tagen bei einem Eisenhändler eine alte Glocke mit der Aufschrift: »Antoine Albin, Romainville« gesehen hatte.
Ihn fror. Er zündete Feuer im Kamm an. Das Fenster zuzumachen, daran dachte er nicht.
Währenddem war er wieder in dumpfe Gedankenlosigkeit versunken, und es kostete ihm ziemlich viel Mühe, um sich auf das zu besinnen, was seinen Geist vor Mitternacht beschäftigt hatte.
»Ach so!« sagte er bei sich, »ich hatte beschlossen mich den Gerichten anzugeben.«
Da fiel ihm plötzlich Fantine ein.
»Ja, was soll denn aber aus der werden?«
Dieser Gedanke führte eine neue Krisis herbei.
Er wirkte, wie ein unerwarteter Lichtstrahl, der urplötzlich alle Gegenstände ganz anders erscheinen läßt.
»Was soll das heißen? Ich habe ja bis jetzt immer nur an mich gedacht, nur auf mein Belieben Rücksicht genommen. Es beliebt mir zu schweigen oder mich zu denunzieren, meine Person in Sicherheit zu bringen oder meine Seele zu retten, ein verächtlicher und geachteter Beamter СКАЧАТЬ