Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Eines Tages ritt er in Senez, einer alten Bischofsstadt, auf einem Esel ein. Ein andres Transportmittel hatte er wegen der starken Ebbe, die in seiner Börse aufgetreten war, nicht genehmigen können. Als er nun von seinem Esel abstieg, maß ihn der Bürgermeister, der sich zu seinem Empfange vor dem Bischofspalais eingefunden, mit Blicken, aus denen tiefe sittliche Entrüstung sprach, und einige Vorübergehende, die ihrer Kleidung nach zu urtheilen den bessern Ständen angehörten, blieben stehen und lachten.
»Meine Herren, sagte der Bischof, ich kann mir das Motiv Ihres Unwillens denken: Sie finden es anmaßlich, daß ein armer Priester sich des Reitthieres Jesu Christi bedient. Ich versichere Sie aber, ich thue es aus Noth, nicht aus Eitelkeit.«
Wohin er auch bei einer solchen Rundreise kam, stets zeigte er sich milde und nachsichtig gegen seine Untergebnen und in seinen Predigten schlug er vorzugsweise einen gemüthlichen Gesprächston an. Weither geholte Gründe und Beispiele liebte er nicht. Dagegen ermahnte er die Leute an einem Ort sich die Bewohner eines andern, benachbarten, zum Vorbild zu nehmen. Wo man hart gegen die Bedürftigen war, sagte er z.B.: »Nehmt Euch Eure Nachbarn in Briançon zum Vorbild. Sie haben den Armen, den Wittwen und Waisen die Erlaubnis ertheilt, ihre Wiesen drei Tage vor den Andern abmähen zu lassen und repariren ihnen ihre Häuser, wenn sie baufällig geworden sind, unentgeltlich. Deshalb hat aber auch der liebe Gott das Land gesegnet, denn volle hundert Jahre lang ist daselbst kein Mord vorgekommen.«
Zu Leuten, die bei der Ernte zu genau verfuhren, sagte er. »Seht Euch mal an, wie sie's in Embrun machen. Hat ein Familienvater Söhne beim Militär oder Töchter, die in der Stadt dienen, und kann er wegen Krankheit oder aus einem andern Hindrungsgrunde die Einbringung seiner Ernte nicht besorgen, so empfiehlt ihn der Pfarrer der Gemeinde, dann kommen am Sonntag alle Leute aus dem Dorfe, die Männer, die Frauen, die Kinder, mähen ihm sein Getreide und schaffen es ihm, Korn und Stroh, in seine Scheune.« – Zu den Familien, die wegen Geld- und Erbschaftsangelegenheiten uneinig waren sagte er: »Schaut mal, wie sie's in Devolny anfangen. Es ist das eine rauhe Gebirgsgegend, wo man den Gesang der Nachtigall kaum einmal in fünfzig Jahren zu hören bekommt. In diesem Lande also gehen die Söhne, wenn der Vater stirbt, in die Fremde, und überlassen das Erbe ihren Schwestern, damit diese sich verheirathen können.« – In den Kantonen, wo viel prozessirt wurde, sagte er: »Nehmt Euch die braven Bauern in Queyras zum Vorbild. Es sind ihrer dreitausend Seelen, und die Leute leben dort einträchtig, als bildeten sie eine kleine Republik für sich. Richter und Exekutor giebt's dort nicht. Der Schulze besorgt da alles. Er veranlagt die Steuern, schätzt Jeden ein, wie er's vor seinem Gewissen verantworten kann, schlichtet unentgeltlich Streitigkeiten, theilt Erbschaften ohne Honorar zu fordern, fällt Urteilssprüche ohne den Leuten Unkosten zu verursachen, und er findet Gehorsam, weil er ein gerechter Mann ist und unter einfachen Leuten lebt.« In den Dörfern, wo kein Schullehrer war, verwies er wieder auf das Beispiel der Bauern in Queyras: Wißt Ihr, wie die's machen? »Da ein Dorf mit nur zwölf bis fünfzehn Häusern nicht immer die Mittel besitzt einen Magister zu ernähren, so thun sich die Bewohner des ganzen Thales zusammen und halten sich Schulmeister. Die gehen von Dorf zu Dorf und geben hier acht, dort zehn Tage lang Unterricht. Diese Magister finden sich ein, wo Jahrmarkt ist, und ich habe selber welche gesehen. Sie sind an den Schreibfedern, die sie in einer Schnurschleife am Hute tragen, zu erkennen. Die nur Unterricht im Lesen ertheilen, haben eine Feder; die im Lesen und Rechnen unterrichten, zwei; die Lesen, Rechnen und Latein lehren, drei. Diese Letzteren sind große Gelehrte. Aber welche Schande unwissend zu sein! Ahmt den Leuten in Queyras nach.«
In dieser eindringlichen und väterlichen Ausdrucksweise pflegte er mit den Leuten zu reden. Und die Ermanglung von Beispielen erfand er Gleichnisse, hob deutlich das hervor, worauf es an kam, und brauchte wenig Redensarten, aber desto mehr bildliche Wendungen, wie Jesus Christus, dessen Beredsamkeit zu Herzen ging, weil sie aus dem Herzen kam.
IV. Uebereinstimmung von Thaten und Worten
Im Gespräch war er leutselig und heiter. Er paßte sich dem Verständniß der beiden Frauen an, die bei ihm lebten. Lachen konnte er so herzlich wie ein Schulknabe.
Frau Magloire nannte ihn gern Hoher Herr. Eines Tages nun erhob er sich von seinem Sessel, um ein Buch zu holen, konnte es aber, da es auf einem oberen Regal lag und er zu kleiner Statur war, nicht langen. Da rief er Frau Magloire: »Bringen Sie mir doch einen Stuhl. Die Hoheit des hohen Herrn reicht nicht bis an das Brett da.«
Eine entfernte Verwandte von ihm, die Gräfin von Lô, ließ es sich selten entgehn, in seiner Gegenwart die »Hoffnungen« ihrer drei Söhne ausführlich aufzuzählen, nämlich all die Glücksgüter und Vortheile, die sie von reichen alten Verwandten binnen voraussichtlich kurzer Zeit erben würden. Der jüngste Sohn erwartete von einer Großtante ein Jahreseinkommen von nicht weniger als hunderttausend Franken; dem zweiten mußte der Herzogstitel seines Oheims zufallen; der Aelteste hatte Anwartschaft auf die Pairie seines Großvaters. Diesen unschuldigen und verzeihlichen Prahlereien der zärtlichen Mutter hörte meistentheils der Bischof mit musterhaftem Stillschweigen zu. Bei einer Gelegenheit indeß hing er seinen eigenen Gedanken nach, während die Gräfin sich in weitschweifigen Erörterungen aller dieser Successionen und »Hoffnungen« erging. Plötzlich brach sie ungeduldig ab und fragte ärgerlich: »Aber, Vetter, woran denken Sie denn?« »An einen sonderbaren Ausspruch, versetzte er, der, wenn ich nicht irre, sich in den Werken des heil. Augustin findet: Setzet Eure Hoffnung auf Den, dem Niemand succedirt.«
Ein andres Mal, als er eine Todesanzeige mit einem langathmigen Verzeichnis der Würden des Verstorbnen und der Adelstitel aller Verwandten desselben erhalten hatte, rief er aus: »Was für einen starken Rücken Freund Hein haben muß, daß man ihm soviel gewichtige Titel aufpacken kann, und wie gescheidt die Menschen sind, da sie sogar in einem Grabe Gelegenheit zur Befriedigung ihrer Eitelkeit finden!«
Er verstand auch zu spotten, in harmloser Weise, aber fast immer mit einem ernsten Hintergedanken. So kam einmal während der Fastenzeit ein junger Vikar nach Digne und hielt eine recht beredte Predigt über die Mildthätigkeit. Er forderte die Reichen auf den Armen zu geben, um der Hölle zu entgehen, deren Schrecknisse er ihnen in den grellsten Farben ausmalte, und sich das Himmelreich zu erobern, das er als überaus lieblich und erstrebenswert hinstellte. Diese Schilderung machte auf einen seiner Zuhörer, der im Handel zwei Millionen zusammengerafft hatte, einen so nachhaltigen Eindruck, daß er von seiner Gepflogenheit niemals Almosen zu geben abließ und von der Zeit an jeden Sonntag an der Kirchenthür eine kleine Kupfermünze für sechs Bettlerinnen spendete. Eines Tages nun, als er wieder diesen Akt hochherziger Mildthätigkeit vollzog, sah ihn der Bischof und bemerkte lächelnd zu seiner Schwester: »Sieh mal, da kauft sich Herr Geborand für einen Sou ewige Seligkeit.«
Handelte es sich um Mildthätigkeit, so ließ er sich selbst durch eine abschlägige Antwort nicht abschrecken und verstand es mit einer treffenden, geistreichen Entgegnung den Widerspenstigen andern Sinnes zu machen. Einmal sammelte er in einer Gesellschaft für die Armen. Unter den Anwesenden befand sich der Marquis von Champtercier, ein reicher alter Geizhals, der das Kunststück fertig gebracht hatte zugleich ultraroyalistisch und ultravoltairianisch gesinnt zu sein. Denn es hat auch solche Käuze gegeben. Als der Bischof zu ihm gelangt war, berührte er ihn am Arm und sagte: »Herr Marquis, Sie müssen mir etwas geben.« Der Marquis wandte sich um und antwortete trocken: »Bischöfliche Gnaden, ich habe schon meine Armen.« »Dann geben Sie mir die,« entgegnete der Bischof.
Eines Tages hielt er im Dom folgende Predigt: »Theuerste Brüder, liebe Freunde, es giebt in Frankreich 1,320,000 Bauernhäuser mit nur drei, 1,817,000 mit zwei Oeffnungen, der Thür und einem Fenster, und endlich 346,000 Hütten mit einer einzigen Oeffnung, der Thür. Schuld СКАЧАТЬ