Название: Geschichte meines Lebens
Автор: George Sand
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783754183267
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Aus Mailand, den 11. December 1807.
„Diese Ueberschrift, meine Geliebte, muß Dir sagen, daß ich womöglich noch einmal so viel als sonst an Dich denke, da ich an einem Orte bin, der von den Erinnerungen unserer Liebe erfüllt ist, erfüllt von meinen Schmerzen, meinen Qualen und meinen Freuden. Ach! mit welchen Gefühlen habe ich die Gärten in der Nähe des Corso durchstreift. Nicht alle diese Gefühle waren angenehm, aber was sie alle beherrscht, ist meine Liebe für Dich, meine Ungeduld, in Deine Arme zurückzukehren. Zu Ende des Monats sind wir ganz gewiß wieder in Paris. Es ist unmöglich, daß Du Dich mehr langweilst als ich; ich stecke in Festen und Ceremonien bis über die Ohren. Alle meine Kameraden sagen dasselbe, und doch haben sie nicht so ernste Gründe, das Ende aller dieser Komödien zu wünschen, als ich. Für mich wird die Luft durch diese Größe, diese Würde, diese Steifheit, diese Langeweile ordentlich schwer. Der Prinz ist krank und aus diesem Grunde werden wir hoffentlich noch vor der Rückkehr des Kaisers abreisen, und ich werde Dich bald wiedersehen — Dich, meinen Engel, meinen Dämon und meine Gottheit. Wenn ich in Turin keinen Brief von Dir finde, werde ich Dich an den kleinen Ohren zupfen. Lebe wohl und tausend zärtliche Küsse für Dich, für Aurora und meine Mutter. Ich schreibe Dir aus Turin.“
Das Leben meines Vaters, dieses reine, edle Leben nähert sich seinem Ende. Ich werde von ihm nur noch eine fürchterliche Katastrophe zu erzählen haben. Von jetzt an werde ich durch meine eigenen Erinnerungen geleitet, und da ich nicht die Kühnheit habe, die Geschichte meiner Zeit außerhalb der Grenzen meiner eigenen Lebensgeschichte zu erzählen, werde ich von dem Feldzuge in Spanien nur das berichten, was ich mit eignen Augen davon gesehen habe — und zwar zu einer Zeit gesehen, als die äußern Dinge mir noch fremd und unverständlich waren, aber doch wie geheimnißvolle Bilder meine Aufmerksamkeit erregten. Man erlaube mir, etwas zurückzugehen und mein Leben in dem Augenblicke wieder aufzunehmen, wo ich begann, desselben bewußt zu werden.
Zweite Abtheilung.
Erstes Kapitel.
Die ersten Erinnerungen. — Die ersten Gebete. — Das silberne Ei der Kinder. — Der Vater Noël. — Das System J. J. Rousseau's. — Das Lorbeergehölz. — Polichinelle und die Straßenlaterne. — Die Romane zwischen vier Stühlen. — Militärische Spiele. — Chaillot. — Clotilde. — Der Kaiser. — Die Schmetterlinge und der Sohn der Jungfrau. — Der König von Rom. — Das Flaschenet. —
Man muß wohl glauben, daß das Leben an und für sich etwas Schönes ist, da der Beginn desselben so lieblich und die Jugend eine so glückliche Zeit ist. Es giebt Keinen unter uns, dem diese Zeit nicht wie ein goldner, längst entschwundener Traum erschiene, mit dem Nichts im späteren Leben sich vergleichen läßt. Ich sage ein Traum, denn wenn wir in diese ersten Lebensjahre zurückdenken, wo unsere Erinnerung noch unbestimmt umherschweift und nur einzelne Eindrücke aus der Unsicherheit des Ganzen in uns zurückbleiben, so wissen wir nicht zu sagen, warum diese Lichtblicke, die Andern unbedeutend erscheinen, auf uns selbst einen so mächtigen Zauber ausüben.
Das Gedächtniß ist eine Fähigkeit, die sich bei jedem andern Individuum anders zeigt, und die, da sie bei Keinem vollständig ist, tausend Inconsequenzen hat. Bei mir, wie bei vielen andern Menschen ist sie in gewisser Beziehung außerordentlich entwickelt und in anderer außergewöhnlich schwach. Ich erinnere mich nur mit Anstrengung der kleinen Begebenheiten vom vergangenen Tage und den größten Theil der Einzelnheiten vergesse ich für immer — aber wenn ich den Blick weiter zurückwende, so finde ich Erinnerungen an ein Alter, in das die meisten Menschen nicht zurückzudenken vermögen. Hängt dies nun nothwendig von der Natur dieser Fähigkeiten in mir ab, oder von einer gewissen Frühreife des Selbstbewußtseins?
Vielleicht sind wir Alle in dieser Beziehung gleichmäßig begabt und vielleicht behalten wir eine klare oder dunkle Vorstellung der vergangenen Dinge nur im Verhältniß der größern oder geringern Erregung, die sie uns verursacht haben. Gewisse innere Vorgänge machen uns oft gleichgültig gegen Ereignisse, welche die Welt um uns her erschüttern. Es geschieht auch wohl, daß wir uns dessen, was wir schlecht begriffen haben, nur undeutlich erinnern und vielleicht ist das Vergessene nur eine Folge des Nichtbegreifens und der Unachtsamkeit.
Das mag nun sein, wie es will, meine erste Erinnerung, die ich hier mittheilen werde, schreibt sich aus dem frühesten Lebensalter her. Als ich zwei Jahr alt war, ließ mich meine Wärterin aus ihren Armen auf eine Kaminecke fallen; ich erschrak und verwundete mich an der Stirne. Dieser Stoß, diese Erschütterung des Nervensystems erweckte meinen Geist zum Gefühl des Lebens. Ich sah ganz deutlich und sehe noch den röthlichen Marmor des Kamins, mein dahinfließendes Blut und das verwirrte Gesicht meiner Wärterin. Ich erinnere mich eben so deutlich an den Besuch des Arztes, an die Blutigel, die man mir hinter das Ohr setzte, an die Unruhe meiner Mutter und an das Weggehen der Wärterin, die wegen Trunksucht verabschiedet wurde. Wir verließen das Haus; ich weiß nicht, wo es lag und bin nie dahin zurückgekehrt, aber wenn es noch existirt, so glaube ich, daß ich mich darin noch zurechtfinden würde.
Es ist daher gar nicht zu verwundern, daß ich mich der Wohnung, die wir ein Jahr später in der rue Grange-Batelière bewohnten, vollkommen erinnere. Von dort her datiren sich meine klaren und fast ununterbrochenen Erinnerungen. Aber von dem Unfall am Kamin bis zum Alter von drei Jahren kann ich mir nur eine unzählige Menge von Stunden zurückrufen, die ich schlaflos in meiner Wiege zubrachte und mit der Betrachtung einer Vorhangsfalte oder einer Tapetenblume ausfüllte.
Ich erinnere mich auch, daß die Bewegungen und das Summen der Fliegen mich viel beschäftigten, und daß ich die Gegenstände oft doppelt sah — ein Umstand, den ich nicht zu erklären vermag, dessen sich aber, wie mir gesagt ist, viele Menschen aus ihrer ersten Jugend erinnern. Vor Allem nahm die Flamme der Kerzen in meinen Augen diese Gestalt an und ich wußte, daß es eine Illusion war, konnte mich dem Eindrucke derselben jedoch nicht entziehen. Es scheint mir sogar, als hätten diese Einbildungen zu den einförmigen Unterhaltungen meiner Gefangenschaft in der Wiege gehört und dies Leben in der Wiege zeigt sich mir als ein außerordentlich langes und von einer sanften Eintönigkeit erfüllt.
Meine Mutter arbeitete früh an meiner Entwickelung, und wenn mein Gehirn auch keinen Widerstand leistete, so war es doch auch in keiner Weise voraus und hätte sich vielleicht erst spät thätig bewiesen, wäre man ihm nicht zu Hülfe gekommen. Gehen konnte ich, als ich zehn Monate alt war; sprechen lernte ich ziemlich spät, aber als ich angefangen hatte, einige Worte zu sagen, lernte ich die andern sehr schnell und mit vier Jahren las ich, sowie meine Cousine Clotilde; wir Beide waren wechselsweise durch unsre Mütter unterrichtet. Man lehrte uns auch Gebete und ich erinnere mich, daß ich sie ohne Anstoß von einem Ende zum andern hersagte, aber nicht das Geringste davon verstand — ausgenommen die ersten Worte des letzten Gebetes, das wir hersagen mußten, wenn wir, wie das oft geschah, unsere Köpfe auf ein Kissen legten. Es begann: Mein Gott, ich gebe dir mein Herz! Ich weiß nicht, warum ich dies besser als alles Andere verstand, denn es ist viel Metaphysik in diesen wenigen Worten; aber gewiß ist, daß ich es verstand, und daß es die einzige Stelle in meinen Gebeten war, bei welcher ich an Gott dachte und an mich selbst. Das Vater unser, den Glauben und das Ave Maria konnte ich sehr gut auf französisch, mit Ausnahme der Bitte: gieb uns heute unser täglich Brod! — aber wenn ich diese Gebete wie ein Papagei lateinisch hergeplappert hätte, würden sie nicht unverständlicher für mich gewesen sein.
Man ließ uns auch La Fontaine's Fabeln lernen; aber als ich sie fast alle konnte, waren СКАЧАТЬ