Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten. Joachim Kath
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Название: Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten

Автор: Joachim Kath

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783847659433

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СКАЧАТЬ linear von uns ausgehen. Ich erinnere mich noch genau, es muss so ungefähr dreißig Jahre her sein, an das plastische Beispiel, das er in einer Vorlesung brachte. Nach seiner Meinung stimmen unsere Vorstellungen von der Welt grundsätzlich mit der Welt nicht überein. Nehmen wir nur einmal eine Welt, die wir alle zu kennen meinen, beispielsweise die Hühnerwelt. Die stellen wir uns gerne als Omas lustig pickende Hühnerschar samt munter krähendem Hahn auf dem Mist vor, wie wir sie aus unserer Kindheit, wenn wir auf dem Lande aufgewachsen sind, oder sonst aus Bilderbüchern kennen. Und weil wir annehmen, dass für uns selbst Bodenhaltung besser erträglich wäre als Käfighaltung, kaufen wir lieber Eier von sogenannten freilaufenden Hühnern. In Wirklichkeit ist beides, Käfig und Boden, Intensivhaltung in fensterlosen Hallen und das eine so inhuman wie das andere.“

      „Was war denn zuerst da, die Henne oder das Ei?“ wollte ich scherzhaft wissen.

      Jonathan Seyberg ignorierte die kleine Boshaftigkeit, ihn aufs Glatteis zu führen und antwortete kühl: „Das Ei natürlich, biologisch und evolutionstheoretisch betrachtet, gibt es daran keinen Zweifel!“

      Ich bewunderte seine Selbstsicherheit und hasste meine Albernheit. Das Niveau eines Gesprächs zu drücken, war mir peinlich. Ihn jedoch schien es nichts auszumachen. „Durch die direkte Übertragung der Kästchen aus dem Matheheft in die Landschaft ist es zu dieser unmenschlichen Architektur gekommen. Schade, dass sich die Landschaft nicht wie ein Heft zuklappen lässt“, sagte er sichtlich erregt. Wir fuhren auf dem Venetian Causeway, dessen Brücken die künstlichen Inseln Belle, Rivo Alto, Dilido, San Marino und San Marco verbinden, in Richtung City. Die Skyline von Miami und links die Ozeandampfer im größten Kreuzfahrerhafen der Welt, machten die Dominanz der Technik augenfällig.

      „Wer sich für den Fortschritt begeistert, kann bei diesem Anblick nur jubeln, das ist das moderne Amerika, gleißend weiße Schiffe vor Spiegelglasfassaden. Doch wie es dahinter aussieht, hinter den Kulissen, nur ein paar Hundert Meter weiter, Sex, Drugs and Crime, bitterste Armut, keine Hoffnung, ein verrottetes Chaos, das nenne ich Kontrast. Die wichtigste Frage ist: Wer sieht die Probleme und findet die Lösungen?“

      „Ist es nicht in allen Hafenstädten der Welt ähnlich?“ fragte ich vorsichtig.

      „Der gute alte Aaron Schlesinger hat damals schon gewusst, dass die Politiker immer nur Aufgaben angehen, deren Lösungen sie zu kennen meinen. Meistens irren sie sich auch darin, gewinnen aber Zeit und oft die nächste Wahl. Bei jedem Konflikt-Szenario gibt es grundsätzlich ein Problem, ein Hindernis, das einen Engpass darstellt, der erkannt und überwunden werden muss, um zu einer Lösung zu gelangen. Das war und ist typisch für Aaron, ich möchte fast vermuten, eine jüdische Denktradition, wie er gerne argumentiert. Er behauptet, ohne Hindernisse gäbe es keine Probleme, folglich wäre es gut, dass es Hindernisse gibt. Denn wenn wir keine Probleme hätten, brauchten wir keine Lösungen. Darin steckt eine Menge Ähnlichkeit mit dem berühmten Witz, in dem sich zwei Juden auf einem Bahnhof treffen und der eine den anderen nach seinem Reiseziel fragt. Und der antwortet, er führe nach Lodz. Denn es sind polnische Juden. Da beschimpft der andere ihn, diese Antwort sei eine Gemeinheit, weil er zufällig erfahren habe, dass er tatsächlich nach Lodz wolle, warum er ihn also belüge.“

      „Die Analogie verstehe ich nicht!“ sagte ich.

      „Ich auch nicht!“ lachte der Professor, um dann gleich wieder ernsthaft zu werden, „es hat natürlich schon etwas mit dem Ums-Eck-denken zutun. Doch was ich damit auch meine: Wenn es eine Ausweglosigkeit gibt, wird der Engpass zur Mauer, das Hindernis wächst und der Engpass wird immer enger. Schließlich bleibt nur Resignation oder Aggression. Beides hat dieselbe Ursache, denselben Auslöser. Der Mensch ist bequem. Er springt nicht über Hindernisse, wenn er nicht muss. Er sucht nicht den Konflikt, wenn er einen anderen Ausweg weiß. Gewalt ist immer ein Zeichen von Verzweiflung.“

      „Ein Tennis-Match ist auch ein Konflikt!“ sagte ich.

      „Genau“, stimmte Jonathan überraschend zu, „es gibt kein Unentschieden. Jedes Spiel endet mit einem Sieg oder einer Niederlage. Mit einer klaren, eindeutigen Lösung. Und das, obwohl sich die Parteien, die Gegner, nicht mutwillig verletzen können. Außer jemand dreht durch. Wo gibt es das sonst im Leben?“

      „Interessanter Aspekt!“ gab ich zu.

      „Um nochmals auf Aaron zu kommen“, fuhr er unbeirrt fort, „der hat entdeckt, dass es zwischen Problem und Lösung einen Lösungsradius gibt. Wenn der zwischen 180 und 360 Grad beträgt, sich also Problem und Lösung diametral entgegenstehen, wird die Lösung immer schwieriger. Im Extremfall gibt es eine Kette von Problemen mit unterschiedlichen Lösungsradien. Auch Radien, die über 360 Grad hinausgehen, also spiralförmig sind. Die Lösungswege hochkomplizierter Probleme sehen aus wie Turbulenzen, weil einzelne Stufen unsinnigerweise wiederholt auftreten, obwohl sie absolut identisch sind.“

      „Ist für mich zu hoch, verstehe ich einfach nicht!“ gab ich zu.

      „Nun, Tennis ist im Grunde ein ganz einfaches Spiel“, erklärte er genüsslich, „solange man es nicht kann. Sich den Ball irgendwie übers Netz langsam zuzuschaufeln, dass kann fast jeder ziemlich schnell lernen. Problem, Hindernis und Lösung sind praktisch auf einer Ebene. Das Ziel besteht nur darin, Spaß zu haben. Solange einer gut genug ist, dem anderen den Ball so zu servieren, dass er kein Problem hat, das Netz zu überwinden und ins Feld zu treffen, ist das erste Problem gelöst. Aber wie bei allen komplexen Problemen, und dazu gehört Tennis im Wettkampf, wird dem Anfänger eher als ihm lieb ist klar, das dieses Spiel körperliche und geistige Flexibilität erfordert. Mit Komplexität umzugehen, ist für jeden Menschen, auch für mich, wie Schwimmen mitten im Ozean. Plötzlich kippt das Wetter um und mit ihm die Situation. Auf solche relativ schnellen Veränderungen sich bei komplexen Systemen einzustellen ist schwierig.

      Ich habe seit Jahrzehnten Großunternehmen beraten, in denen sich dynamische Veränderungen vollzogen oder auch mit meiner Hilfe geplant herbeigeführt wurden. Die Situation in einem Match ist sehr viel überschaubarer, aber es ist derselbe Ablauf. Ich muss auch agieren und reagieren.“

      „Gibt es für diesen Mechanismus bestimmte Stufen? Sie sprachen von der Einteilung des Lösungsradius und wenn ich Sie recht verstanden habe, meinten Sie, ohne einzelne Phasen könnten komplizierte Probleme nicht gelöst werden, Herr Professor!“

      „Ich lasse mich nicht unter meinem Niveau provozieren!“ gab er schmallippig zurück, ließ aber gleichzeitig erkennen, dass seine Replik augenzwinkernd gemeint war. „Wenn ich mir etwas vornehme, dann gehe ich dieses neue Vorhaben gründlich an. Einfach deshalb, weil ich Zeit sparen will, denn Zeit ist das Einzige, was wir nicht produzieren können, weswegen sie sehr viel wertvoller als Geld ist. In meinem Alter hat man nicht mehr viel Zeit, zwei Drittel meines Lebens sind statistisch vorbei. Die Leute, die wirklich etwas davon verstehen, behaupten unisono, man brauche um das Tennisspielen richtig zu erlernen mindestens zwölf Jahre. Das ist einer der Gründe, weshalb ich besonders gerne gegen überlegene Gegner antrete. Man spart eine Menge Zeit dabei, Matches zu spielen und sämtliche Sinne auf Empfang geschaltet zu lassen, egal wie der Spielstand ist.“

      „Haben Sie denn ein Konzept, nach dem Sie vorgehen?“

      „Natürlich, ich gehe immer schrittweise vor. Grundsätzlich ist es so, dass ich bei der Planung für größere Projekte vier Schritte bewusst berücksichtige: Die Philosophie kommt zuerst!“

      „Die Philosophie?“ fragte ich ungläubig.

      „Ganz genau! Wir können alle im Lexikon oder im Internet nachlesen, dass unter Philosophie das Streben nach Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge in der Welt verstanden wird. Doch das ist mir zu abstrakt. Für mich ist Philosophie der Zweck meines Tuns, über den ich mir bei wichtigen Entscheidungen vorher klar werden will. Das gilt für alle Bereiche der Lebensgestaltung. Auf Tennis bezogen СКАЧАТЬ