Название: Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten
Автор: Joachim Kath
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847659433
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„Wie entsetzlich!“ rief ich gespielt schockiert.
„Ich kenne Aaron Schlesinger seit über zwanzig Jahren. Er ist einer der einseitig begabtesten Leute, die ich bisher getroffen habe. Ein Technikfreak, aber ur in der Theorie. Der war keiner der Jungs, die damals in Steve Jobs Garage den Personalcomputer erfunden haben, überhaupt kein Tüftler und Bastler. Dennoch hat er wahrscheinlich für Silicon Valley mehr getan als alle, die später berühmt wurden, zusammen. Ich weiß nicht, wie viele Patente er besitzt, jedenfalls haben ihn die Computerfirmen immer gerufen, wenn es um kreative Engpässe ging.“
Aaron Schlesinger begrüßte uns am Eingang zum Club. Ein freundlicher Herr im schwarzen Blazer und weißer Hose, ein Seidentuch um den Hals. So wie man sich einen pensionierten Diplomaten vorzustellen hat, den wir von Aperitif-Reklamen kennen.
„Es gibt im Club einen phantastischen Sherry, lang in Eichenfässern gelagert“, sagte er.
Wir sprachen eine Weile über unsere bevorzugten alkoholischen Getränke, der übliche männliche Smalltalk seit Hemingway, bis Jonathan, den so etwas langweilte und ich muss zugeben, dass mich diese Weinkenner mit ihrem Getue auch nerven, die Frage stellte, die ihn interessierte: „Wie siehst du eigentlich die technische Entwicklung im Tennisschläger-Bau?“
Ich bin sicher, er hätte auch jede andere Frage zu irgendeinem Gebiet stellen können, solange es um Technik ging. Jedenfalls wurde Aaron augenblicklich wach. Visionen waren gefordert. „Was ist das wirkliche Problem?“ fragte er.
„Das Problem bei Tennisschlägern ist der konstruktive Widerspruch von Power und Gefühl. Die heutigen Wide-Body-Schläger mit ihren großen Köpfen haben viel Geschwindigkeit ins Spiel gebracht, aber sehr viel Ballbeschleunigung bedeutet auch weniger Touch. Selbst der Nichtkönner kann heute bis zur Grundlinie schlagen und darüber hinaus. Letzteres praktiziert er mit Vorliebe.“
„Was wir brauchen, ist der denkende Schläger!“ wurde ich utopisch.
„Es gibt noch nicht einmal den denkenden Computer“, wiegelte Aaron Schlesinger ab.
„Computer können zuverlässiger große Datenmengen speichern als wir, aber für das Denken ist Lernen eine Voraussetzung und auch Phantasie. Im Grunde werden Computer überschätzt“, sagte Jonathan Seyberg.
„Ich glaube“, sagte Aaron bedächtig, „Tennisschläger haben mit Computern insofern zutun, dass schon seit geraumer Zeit CAD, also Computer Aided Design, auch auf diesem Feld eingesetzt wird. Aber um nicht nur mehr Power, sondern auch mehr Ballkontrolle und Komfort zu erzielen, wird sich auf dem Materialsektor etwas bewegen. Bei den Saiten ist die Entwicklung auf dem Kunststoffsektor vorangekommen. Und auch bei den Rahmen wird die Flüssigkristall-Technologie, werden die sogenannten viskoelastischen Polymere wahrscheinlich dem Graphit den Rang ablaufen. Jeder kennt das Zeug von den Bildschirmen bei Smartphones oder Notebooks. Die Flüssigkristalle können bei Temperaturunterschieden, aber auch bei Druck, blitzschnell ihre Festigkeit verändern. Ein Racket kann also bei weichem Spiel elastisch sein und bei harten Schlägen fester. Es passt sich automatisch an die Spielweise an.“
„Aber spielen muss man schon noch selbst“, witzelte Jonathan.
Die Mahagoni-Täfelungen aus viktorianischer Zeit, das handgearbeitete Mobiliar und die zehn Zentimeter dicken Massivholztüren gaben dem Restaurant des Fisher Island Clubs eine unamerikanische Gediegenheit. Das Menü war superb. Vorspeise: Gemüsesülze mit Gänseleber. Zwischengericht: Spargel mit Entenleberklößchen. Hauptgericht: Zander auf Kohlrabi. Dessert: Kirschtörtchen mit Mandeleis. Ein Chablis zum Fisch und zum Schluss ein Espresso. Aaron Schlesinger kannte sich nicht nur technisch und kulinarisch aus, sondern hatte auch für Jonathan einen Gegner parat, der in seiner besten Zeit auf Rasen ein As war. 36-mal hatte der Mann auf dem Centre Court in Wimbledon gespielt und jetzt mit 80 Jahren wirkte Gardnar Mulloy immer noch ziemlich fit. Zu gut jedenfalls für Jonathan.
„Haben Sie gemerkt, dass der Alte überhaupt nicht gelaufen ist?“ stöhnte er hinterher auf der Rückfahrt. „Der stand einfach immer richtig, weil er schon ahnte, wo ich hinschlage. Überhaupt keine Hektik. Der hätte auch mit verbundenen Augen gewonnen. Und dann dieser flache Rückhandslice, bei dem der Ball praktisch nur noch auf dem Rasen entlang rutscht. Das war allererste Sahne!“
„Mann – und die Tricks, die der auf Lager hatte“, rief ich bewundernd aus.
„Jeden, aber auch wirklich jeden Schlag hat der angetäuscht und variiert, alles grundsätzlich angeschnittene Bälle, sogar mit Seitendrall, aus dem Handgelenk, ansatzlos“, äußerste sich Jonathan anerkennend.
„Das war kreatives Tennis“, stellte ich fest. „übrigens der andere Weißhaarige, den ich heute kennengelernt habe, der hat mich auch fasziniert. Eine tolle Persönlichkeit!“
„Ja, der Aaron, das ist auch ein Kreativer, deshalb kann der so bescheiden auftreten. Keine Show. Überhaupt nicht aggressiv. Bei dem spürt man auch diese professionelle Lockerheit, die man selbst gerne hätte. Der Aaron war mein Lehrer an der Uni, Gastprofessor für kreatives Denken. Der hat die Ums-Eck-Denkmethode erfunden und publiziert.“
„Die auf was basiert?“ nutzte ich sofort die Chance zur Frage.
„Die auf der einfachen Erkenntnis gründet, dass beim Denken Flexibilität ein viel wichtigeres Prinzip als Starrheit ist und folglich die Gerade, die in der Natur bekanntlich nicht vorkommt, für das Denken weniger taugt als die Kurve. Deshalb lehrte er, ums Eck zu denken sei die natürlichste Sache der Welt, weil nachweisbar natürliche Bewegungen und Entwicklungen Wellenbewegungen sind. Der Flügelschlag des Vogels läuft ebenso in Wellenbewegungen ab wie das Wachstum eines Kindes. Es gibt zahlreiche Beispiele: Das Wetter, die Jahreszeiten, die Gezeiten. Aber auch die Musik, die Schwingungen des Schalls, unser ganzes Leben. Weder wachsen wir kontinuierlich bis zu unserer vollen Größe, noch altern wir stetig. Selbst in der wohl epochalsten aller wissenschaftlichen Erkenntnisse, in Albert Einsteins Relativitätstheorie, finden wir Hinweise gegen die Geometrie Euklids, nämlich das Vorhandensein von Gravitationsfeldern bedingt eine Krümmung des physikalischen Raums. Sogar die Wirtschaft richtet sich nach dem uralten Berg-und-Tal-Prinzip. Auf die Auf die Konjunktur mit steigenden Wachstumsraten folgt stets die Rezession mit einer Abkühlung. Auf das Leben folgt das Sterben.“
„Zyklen sind nichts Neues!“ warf ich ein.
„Selbst an unserem Körper ist nichts gerade. Nicht umsonst sprechen wir von Gehirnwindungen, Darmschlingen, Augäpfeln, Schulterachseln, Ellbogen, Armbeugen, Mundwinkeln, Lungenflügeln. Von herzförmig, nierenförmig und auch Busen und Po sind eher rund als gerade.“
„Ausnahmen bestätigen die Regel“, konterte ich routiniert.
„Das Ums-Eck-Denken ist die zeitweilige Befreiung des Denkbaren von den engen Grenzen des Machbaren. Ganz im Gegensatz zum mathematisch-grammatikalischen Denken ist hier nichts unmöglich. Es gibt kein RICHTIG oder FALSCH, sondern nur ein Ergebnis oder kein Ergebnis. Aber auch die Ergebnisse sind nur vorläufig und nicht endgültig. Das sehr ordentliche, klinische Denken, das uns meistens in der Schule beigebracht wird, dieses antiseptische Denken, auch Kästchendenken genannt, führt in erster Linie zur Vervielfältigung von etwas Vorhandenem, also zur Verbreitung von Basiswissen. In den Schulen und Universitäten wird, jedenfalls nach Aarons These und ich schließe mich der an, überwiegend Gedächtnisleistung prämiert. Auf manchen Forschungsgebieten meint er, würde bei genauer Analyse erkennbar, dass eine СКАЧАТЬ