Название: Von Homer zu Jesus
Автор: Gregor Bauer
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783742719782
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Auf die Lüge angewiesen war auch, wer die hoch angesehene Tugend der Rache üben wollte. Denn er musste wie Odysseus seine Opfer gelegentlich täuschen, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen. Bei der Ausführung war dann die Krone aller Tugenden gefordert: die Tapferkeit. Um sie zu üben, brauchte man zwar nicht zu lügen, aber eben auch nicht ehrlich zu sein.
Waren Homers Zuhörer fromm? Ja, wenn man ihnen zugesteht, dass sie unter Frömmigkeit etwas anderes verstanden als ein braver Heilsarmist. Ihnen hatte kein Gott offenbart, dass gelten solle: „Eure Rede sei ja ja, nein nein“ (Mt 5,37). Sie verehrten Götter, die täuschten, betrogen und verführten und die ihnen die Lüge ausdrücklich erlaubten. Und sie verehrten diese Götter nicht, weil sie gut, sondern weil sie mächtig waren.
Wir können heute kaum noch nachfühlen, wie sehr sich die Menschen zu Homers Zeiten göttlichen Mächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlten. Bei kaum einer Situation beschreibt Homer dieses Lebensgefühl so anschaulich wie bei der Fahrt auf hoher See (Od 5,278ff). Jederzeit konnte ein ungnädiger Gott die friedliche See in eine mörderische Hölle aus feindseligen Stürmen und turmhohen Wellen verwandeln. Wer sich auf hohe See begab, hatte also allen Grund, sich mit dem Meergott Poseidon gut stellen.
Zwar konnte man in Homers Welt die Frömmigkeit auch übertreiben: Bei der Heimfahrt der Griechen nach der Zerstörung Trojas erwiesen sich diejenigen als erfolgreicher, die sich sofort auf den Weg machten, ohne sich lange mit umständlichen Gebeten und Opfern aufzuhalten (Od 3,141–146). Doch in der Regel war man besser beraten, den Göttern großzügig zu opfern: „Den Unsterblichen gebührend zu opfern, lohnt sich!“, sagte König Priamos, als er die Leiche seines Sohnes Hektor bei Achill abholte. Trotz übelster Schändungen war Hektors Körper für eine würdige Bestattung unversehrt bewahrt geblieben. Sein Vater führte dies darauf zurück, dass Hektor nie die Opfer für die Himmlischen versäumt hatte: „Nun denken die Götter sogar im Tod noch an ihn“ (Od 24,428).
Wer sich den Göttern ausgeliefert fühlt, macht ihnen keine Vorschriften, wie sie es mit der Wahrheit halten sollen. Sicherlich, die Götter machen sich gelegentlich ein Vergnügen daraus, uns Menschen trügerische Zeichen zu schicken. Aber sie schicken auch Zeichen, die zutreffen und auf die wir dringend angewiesen sind. Wir haben also keine Wahl: Wir müssen versuchen, die einen Zeichen von den anderen zu unterscheiden.
Hektor hat dafür ein einfaches Rezept: Er rätselt nicht über die Vorzeichen der Vögel, „ob sie rechts hinfliegen oder links“. Aber er vertraut sehr wohl dem „Ratschluss des erhabenen Zeus“, der das einzige Wahrzeichen gesetzt hat, das gilt: „Das Vaterland zu retten!“ (Il 12,243).
Das klingt gut, und tatsächlich kommt Hektor damit auch ziemlich weit. Doch am Ende erreicht er das genaue Gegenteil: Tragischerweise ist es ausgerechnet Hektor, der mit dem Sieg über Patroklos die Rache Achills entfesselt, die seiner Heimatstadt die Wende zum Verhängnis bringt.
Auch wer auf die Götter vertraut, kann also fehlgehen. Homers Götter lassen sich eben das Vergnügen nicht nehmen, ihre Helden immer wieder auf das Glatteis der Täuschung zu schicken.
Nur wer der Lüge glaubt, kann die Wahrheit finden
Kommt in einer solchen Welt die Wahrheit überhaupt noch vor? Oder war Homer ein duseliger Träumer, der die Frage nach der Wahrheit in ihrer heutigen Strenge gar nicht stellen konnte?
Wer so denkt, unterschätzt Homer. Zwar stehen seinen Figuren noch keine wissenschaftlichen Methoden zur Verfügung, um die Wahrheit herauszufinden. Aber sie versuchen sehr wohl zu klären, „wie es wirklich ist“. Odysseus beispielsweise besteht gerade deshalb auf sicherer Gewissheit, weil er als Meisterlügner mit den Möglichkeiten der Täuschung bestens vertraut ist. So lässt er die Göttin Kalypso bei dem Unterweltsfluss Styx schwören, dass sie es aufrichtig mit ihm meint. Dieser Schwur ist mit einer schrecklichen Drohung verbunden: Ein Gott, der beim Styx einen Meineid schwört, muss ein Jahr reglos liegen ohne zu atmen, geschweige denn zu essen, und ist danach neun weitere Jahre vom Rat und allen Gastmählern der Götter ausgeschlossen (T 793–798).
In einer anderen Situation entlocken Odysseus und sein Mitheld Diomedes einem potenziellen Lügner vertrauliche Informationen, indem sie ihm eine Belohnung versprechen für den Fall, dass sich seine Aussage als wahr erweisen sollte. Der potenzielle Lügner ist der feindliche Spion Dolon, die Belohnung ist die Freiheit. Die Methode Zuckerbrot funktioniert: Dolon verrät den Griechen, was sie wissen wollten. Anschließend wird er dennoch umgebracht, denn, so Diomedes, „wenn ich dich umbringe, kannst du uns nicht mehr schaden“ (Il 10, 453).
So einfach wie im letzten Beispiel geht es bei der Wahrheitsfindung nicht immer zu. Oft müssen Homers Figuren lange in einem betrügerischen Lügengespinst umherirren, bevor sie die Wahrheit finden. Dann gilt: Wer partout nicht betrogen sein will, der dringt auch nicht bis zu den Tatsachen vor.
So ergeht es beispielsweise Telemachos, dem Sohn des Odysseus. Athene schickt ihn auf die Suche nach seinem vermissten Vater übers Meer, obwohl sie weiß, dass er seinen Vater so nicht finden wird. Dennoch tut Telemachos gut daran, dem eigentlich falschen Rat zu folgen. Denn die vergebliche Reise ist Teil eines Plans, der die beiden schließlich zusammenbringt.
Eumäos, der treue Sauhirt des verschollenen Odysseus, muss sich durch ein ganzes Labyrinth von Lügengeschichten hindurch kämpfen. Nur so hat er die Chance, bis zu dem entscheidenden Körnchen Wahrheit vorzustoßen: Dass sein geliebter Herr lebt und bereits in der Nähe ist. Was der Sauhirt nicht weiß: Die Lügengeschichten erzählt ihm niemand anders als Odysseus selbst. Denn der hat sich in Bettlerlumpen gehüllt, um von Eumäos nicht erkannt zu werden.
Odysseus will Eumäos zeigen, dass seine Ankunft kurz bevorsteht, jedoch ohne sich zu erkennen zu geben. Doch der Versuch misslingt: Zwar glaubt Eumäos dem „Bettler“ fast alle seine Lügen. Aber dass Odysseus bald heimkehre – ausgerechnet diese ersehnte Botschaft kauft ihm der Sauhirt nicht ab. Das, so meint er, habe der Bettler sich nur ausgedacht, um sich bei der Königin beliebt zu machen (Od 14,126f). Der Bettler bestreitet das aufs heftigste. Er beteuert seiner Aufrichtigkeit sehr glaubwürdig und tischt zur Bekräftigung eine beeindruckende Lügengeschichte auf – umsonst: Der Sauhirt lehnt jede Hoffnung ab, weil er keine Enttäuschung erleben will.
Die Götter sind nicht besser als wir
Wie der grundanständige Hesiod wohl über die Homerische Kultur der Lüge gedacht hat? Übernommen hat er sie jedenfalls nicht. Bei Hesiod hat die Überlegenheit des Herrschergottes Zeus bereits mit Moral zu tun (Schönberger 151). Bei Homer ist sie noch rein körperlicher Natur. „Ich bin der Mächtigste, ich zeigs euch!“, protzt er vor den versammelten Göttern des Olymp. „Auf, machen wir Kettenziehen! Ich ziehe auf der einen Seite im Himmel, und ihr zieht alle zusammen auf der anderen Seite auf der Erde. Dann versucht mal, mich vom Himmel auf die Erde zu ziehen. Keine Chance! Aber wenn ich will, ziehe ich euch alle zusammen hoch. Dann zappelt ihr alle an meiner Kette. So stark bin ich!“
Bei Homer klingt das natürlich viel majestätischer (Il 8,18–27). Nicht umsonst haben ihn die Griechen noch Jahrhunderte später wegen seiner erhabenen Sprache über alle anderen Dichter gestellt. Aber deshalb bleibt Homers Zeus doch ein Kraftmeier, den man besser nicht frontal angeht. Wer ihm missfällt, dem könnte es ergehen wie der Schuld: Zeus hat sie vom Olymp geschleudert mit dem Schwur, sie nie mehr zurückkehren zu lassen – Schuldbewältigung auf Olympisch (Il 19,126–131).
Für unbesiegbar halten die Götter ihren Göttervater freilich nicht. Überrumpeln lässt er sich allemal. So lockt ihn seine Frau Hera, von СКАЧАТЬ