Название: Der Aufstieg der Ultra-Läufer
Автор: Adharanand Finn
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783903183711
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So wachte er also eines schönen Morgens auf, zog sich seine Schuhe an, schnallte sich seinen Rucksack mit ein paar Energieriegeln und einer Flasche Wasser um und machte sich auf den Weg. „Ich fühlte mich frei, ohne Druck. Ich konnte es gemütlich angehen, wenn ich wollte, und etwas aufs Tempo drücken, wenn ich mich gut fühlte. Nicht lange und ich hatte die Marathondistanz erreicht, dann fast 50 Kilometer. Meine Füße waren bereits etwas wund, doch ich fühlte mich noch richtig gut, als ich Chelmsford erreichte, wo der Anblick des Zugs so reizvoll war, dass ich mich entschied, die letzten 15 Meilen (ca. 25 km) doch mit der Bahn zu fahren.“
Eine Entscheidung, die er sofort wieder bereute, wie er sagt, und so packte er die Woche darauf wieder seinen Rucksack und lief diesmal die gesamten 56 Meilen (90 km) von London nach Tiptree, wofür er sieben Stunden benötigte. „Das war ein so großartiges Gefühl, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen, und es dauerte nicht lange, bevor ich mich zum ersten Ultra, dem Ring O’Fire, ein 135-Meilen-Rennen (ca. 217 km), rund um die Insel Anglesey, anmeldete.“ Er gewann das Rennen mit einem Vorsprung von mehr als drei Stunden.
Als er ein Jahr später bei einem trendigen, von Adidas gesponsertem Event in Südlondon auftauchte, war Tom noch immer größtenteils auf Straßenmarathons fixiert.
Vor dem Rennen, so sagt Tom, sah er eine Frau, die er von der Laufbahn her, wo er trainierte, wiedererkannte. „Wir unterhielten uns kurz und ich dachte mir, ich sollte heute Abend wohl zusehen, dass ich schnell laufe.“ Da er unbedingt Eindruck schinden wollte, stellte Tom sicher, dass er das Rennen gewann. „Danach ging ich zu ihr und sagte: ‚Gewonnen!‘ Doch sie zeigte sich nicht besonders beeindruckt.“
Beim nächsten Mal, als er auf Rachel traf, bei einem Eliminationsrennen namens Wings for Life, lief die Sache besser. Bei dieser Art von Rennen starten die Läufer mit einem 30-Minuten-Vorsprung auf ein Auto, das ihnen – beginnend mit 15 km/h und danach schrittweise schneller werdend – nachfährt. Wird ein Läufer von dem Fahrzeug überholt, so ist er aus dem Rennen und wird zurück ins Ziel gebracht, wo er oder sie das Rennen auf einer großen Leinwand mitverfolgen kann. Natürlich gewann Tom das Rennen. „Weil ich der Letzte war, sahen mir alle zu“, erklärt er. Er war der Held des Tages. Rachel saß da und sah ihm mit steigender Bewunderung zu. „Sie stellte irgendwas auf Facebook mit Cheering Tom Payn und verlinkte mich. Nach dem Rennen kam sie zu mir und umarmte mich herzlich. Also habe ich sie gefragt, ob sie mit mir ausgehen will.“
Seitdem inspirierten sich Rachel und Tom gegenseitig ihre regulären Jobs aufzugeben, einen gelben VW Käfer zu kaufen und nach Frankreich zu ziehen, um eine Vollzeitkarriere als Ultra-Läufer zu starten. Ach ja, und sie leben jetzt beide vegan. Und sind verlobt. Da ist also einiges passiert, während der letzten paar Jahre. Ich konnte das größtenteils via Social Media mitverfolgen, sehen, wie Toms Haar immer länger wurde, sein Grinsen breiter und die Hintergrundlandschaften auf seinen Fotos immer größer, bunter und epischer. Tom und Rachel haben sich auch eine Wohnung in Chamonix, der europäischen Hauptstadt des Ultra-Running und Basis des UTMB, zugelegt. Dort wohnen sie zur besten Laufzeit im Sommer und vermieten das Apartment in der Schisaison, während sie selbst nach Kenia oder Marokko ziehen, um zu laufen.
„Warum ausgerechnet Marokko?“, frage ich ihn.
„Wir sind eben sehr spontan“, antwortet er. „Wir folgen einfach unserem Herzen. Wir wollten irgendwohin, wo es im Februar und März warm ist, und überlegten, was da in Frage käme? Als wir dann dort ankamen, war es bitterkalt.“
Trotz des überraschend kalten Wetters entpuppte sich das Folge-deinem-Herzen-System als Volltreffer. Einige Monate bevor er an meiner Türe steht, wurde Tom dazu auserkoren, bei den Trail-Weltmeisterschaften für Großbritannien an den Start zu gehen. Ein britisches Trikot überzustreifen war schon immer sein Kindheitstraum und gerade als er nicht mehr daran zu glauben wagte, wurde der Traum wahr. Seine Mutter und Rachel reisten extra aus Portugal an, um ihm beim Rennen zu unterstützen.
„Das war der glücklichste Tag meines Lebens“, sagt er mit leicht zittriger Stimme. „Im Ziel habe ich dann sogar geweint.“
Wir verlassen mein Haus um sechs Uhr am nächsten Morgen und fahren entlang der engen Landstraßen zum Rennstart. Eigentlich sollte ich navigieren, doch ich sage den Weg immer wieder falsch an, da ich mehr damit beschäftigt bin, die richtige Musik vor dem Rennen zu finden, um in Stimmung zu kommen.
Der offizielle Parkplatz ist eine große Wohnsiedlung am Rande eines Dorfes, nur wenige Kilometer von der Küste entfernt. Als sich die zu dieser Zeit normalerweise menschenleeren Straßen mit Autos füllen, sich die Wagentüren nach und nach öffnen und Männer und Frauen in engen Laufhosen und Laufjacken aussteigen, kommt es einem so vor, als fände hier eine Invasion im Morgengrauen statt, während die Dorfbewohner noch schlafen. Jeder unwissende Anrainer, der einen Blick durch das Fenster riskiert, kann sich nur darüber wundern, was hier abgeht. Am Ende der Straße stellen sich die Läufer bereits an und warten auf die Busse, die uns an den Start bringen sollen.
Einige versuchen ein bisschen Konversation zu betreiben. „Hast du den Regen gestern mitbekommen?“ Doch niemandem ist so wirklich nach plaudern zumute. Es zeichnet sich schon langsam ab, was da vor uns liegt, und es ist schwer, nicht daran zu denken. Tom kaut auf einem Fruchtriegel herum. Vor sechs Tagen war er noch beim Marrakesch Marathon gelaufen, wo er für die Topathletinnen 30 km lang den Tempomacher gab, bevor er dann nach 2 Std 35 Min ins Ziel „joggte“. Er fühle sich müde, meint er, und hätte sich auch keine Renntaktik überlegt.
„Manchmal gebe ich auf den ersten paar Kilometern so richtig Gas und lasse es danach lockerer angehen“, sagt er.
„Um gleich einmal allen das Fürchten zu lehren?“
Er lacht. „Ja, so in etwa.“
Rundum sieht man andere Läufer, die ihn genau mustern. Er sieht einfach schnell aus, auch wenn man nur kurz hinsieht. Er ist dünn, drahtig, aber da ist noch mehr. Er sieht fast so aus, als käme er von einem anderen Stern. Diese graue Eintönigkeit, die sich schon einmal über den Arbeitsalltag legt, die unsere Haut blass und unsere Augen müde macht, scheint er nicht zu kennen. Mit seinen feuerroten Haaren und einer allgemein fröhlichen Ausstrahlung, sieht er aus wie ein Superheld in einem Comic.
Im Anmeldezelt steht ein Mann mit einem Clipboard und fragt Tom nach seinem Nachnamen. „Payn“, antwortet er. Er hat sogar den Namen für einen Superhelden – obwohl der fast schon wieder etwas bedrohlich klingt.
„Guter Name für einen Ultra-Läufer“, sagt der Mann mit dem Clipboard.
Nachdem wir uns auf unserem Weg hierher so oft verfahren hatten, haben wir keine Zeit mehr, um uns aufzuwärmen, und bevor wir es uns noch versehen, werden wir bereits and den Start gerufen. Ich folge Tom nach vorne und stehe neben ihm in der ersten Reihe, in der Mitte unter dem Startbogen. Ich genieße es kurzfristig, ein wenig von seinem Ruhm zu profitieren, und sehe die nervösen Blicke, die uns die anderen zuwerfen. Ich klopfe ihm noch einmal freundschaftlich auf die Schulter.
„Gehen wir es an!“
Der Countdown ist bereits im Gange. Drei, zwei, eins … jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die Reise nach Chamonix und zum UTMB hat begonnen.