Bildung und Glück. Micha Brumlik
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Название: Bildung und Glück

Автор: Micha Brumlik

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 9783863936136

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СКАЧАТЬ Menschen gemein ist. Im Unterschied zu Pflichtethiken und im Unterschied zur Moral geht es ihnen aber nicht um die Frage, was unbedingt gerecht und daher geboten ist, sondern um die Frage, zu welchem Zweck Menschen überhaupt leben. Erst Güterethiken können (vielleicht) eine Frage beantworten, vor der die Moral in ihrem eigenen Bezugssystem verstummen muß: Warum soll ich überhaupt im Hinblick auf Gerechtigkeit handeln, warum überhaupt irgendwelchen Pflichten folgen? John Rawls, dessen begriffliche Mittel in diesem Kontext zureichen, unterscheidet zwei Formen des Perfektionismus. Ein Perfektionsprinzip sei in seiner strengen Lesart „der einzige Grundsatz einer teleologischen Theorie, die die Gesellschaft anweist, Institutionen, Pflichten und Verpflichtungen so festzulegen, daß die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur maximiert werden.“21 Der von Rawls als Alternative erwogene gemäßigte Perfektionismus nimmt ein Perfektions- prinzip hingegen nur als ein Prinzip unter mehreren, das im Vergleich zu diesen sorgfältig abzuwägen sei.

      Die sicherlich radikalste und bekannteste Variante des Perfektionismus findet sich im Werk Friedrich Nietzsches und seiner Idee vom Übermenschen, von der „blonden Bestie“ gar, eine Theorie, die keineswegs nur mißverständlich zum Hintergrund des europäischen Faschismus und Rassismus gehört. Daß Richard Strauss’ Tondichtung „Zarathustra“ Stanley Kubricks Film „2001“ an entscheidender Stelle instrumentiert, ist keiner effekthaschenden Absicht zuzuschreiben, sondern dem philosophischen Grundgedanken dieses Films, der mit dem Aufstieg des Menschen aus der Lebensform von Voraffen beginnt, um nach einer langen Weltgeschichte in einem kosmischen Baby zu enden: In der von Kubrick inszenierten überwältigenden Bilderwelt wird die Geschichte der Menschheit als Übergangsgeschehen dargestellt, gerade so, wie Nietzsche Kants Gedanken des Menschen als eines Selbstzweckes dementierte und damit auch in der Moralphilosophie einer radikalen Moderne zum Durchbruch verhalf: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. […] Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist […]. Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, daß der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“22

      Systematisch widerruft Nietzsche in dieser Passage einen zentralen Lehrsatz der Moral der Aufklärung, nämlich Kants in der Metaphysik der Sitten ausgeführtes Prinzip, nach dem „der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck“ ist und er daher „weder sich selbst noch andere als Mittel zu brauchen befugt ist, […] sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“23

      Und so läßt sich fragen: Wenn der Mensch kein Zweck ist, was ist dann überhaupt ein Zweck? Wenn der Mensch eine Brücke ist, dann ist er ein Mittel; offen bleibt lediglich die Frage, wozu? Und wenn es einen Zweck gibt, zu dem der Mensch ein Mittel ist, worin besteht dieser Zweck dann und wer setzt ihn sich in einer Welt nach dem Tode Gottes, die keine metaphysischen Vorgaben mehr kennt? Nach Nietzsche kann es nicht anders sein, als daß der Mensch sich selbst zum Mittel seiner Selbstüberwindung macht und sich ein Ziel steckt, das höher als er selbst ist. Welches wäre der Maßstab, anhand dessen sich bemißt, was höher und was niedriger ist? Für Nietzsche ist dieser Zweck der Übermensch, der ebenso Inbegriff wie reale Möglichkeit wahrer Individualität und überbordender Kreativität ist. Beider Entfaltung aber setzt die Befreiung von den undurchschau- ten Fesseln der Moral voraus. Diese Lehre hat vor allem in der von Nietzsches Schwester überlieferten Form eine rassistische und sozi- aldarwinistische Lesart erhalten, die nachvollziehbare Spuren bis in den tödlichen Rassenwahn der Nationalsozialisten gelegt hat24 Man beraubt sich jedoch aller Erkenntnischancen, wenn man bei der Lektüre Nietzsches vor allem diese eine Folgegeschichte in den Blick nimmt – wie man sich auch aller Erkenntnischancen beraubt, wenn man als hermeneutischen Schlüssel für das Werk von Karl Marx den Stalinismus nimmt. Die moderne Pädagogik, die mit dem Jahrhundert des Kindes ihren Anfang nahm, erweist sich nicht nur in der deutschen Reformpädagogik als zutiefst nietzscheanisch.

      Im Werk von Ellen Key finden wir eine Lektüre und Entfaltung von Nietzsches Ideen, die die Fruchtbarkeit dieses Denkens sehr viel deutlicher werden lassen. Ellen Key, daran ist ein redlicher Zweifel kaum möglich, war eine Darwinistin, die den „Kampf ums Dasein“ sublimieren wollte und die bedauert, daß es bisher nicht gelungen sei, „dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu verleihen“25 Key war fest von der Unabgeschlossenheit, vom fortwährenden Werden des menschlichen Wesens überzeugt26 und zog aus dem Faktum der Evolution den Schluß, daß dort, wo es bereits eine Höherentwicklung gegeben hat, auch eine weitere Höherentwicklung möglich, wenn nicht gar wünschenswert sei27 Es ist diese, von Darwin und Galton unterschiedlich verstandene Evolutionstheorie, die in Verbindung mit einer Tugendethik, d. h. einer Ethik, die als ihr höchstes Kriterium die Heranbildung edler Charaktere sieht,28 die Pädagogik zur Wissenschaft macht: „Erst wenn man die Erziehung des Kindes auf die Gewißheit gründet, daß Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewißheit, daß sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird die Erziehung anfangen, Wissenschaft, Kunst zu werden.“29

      Damit zielt Ellen Key auf eine durch wissenschaftliche Erziehungskunst gesteuerte Evolution der Gattung, die aber nicht – wie man meinen könnte – Entwicklung als Selbstzweck, als Religion30 ansieht, sondern als Unterpfand des Glücks: „Für das Kind wie für den Erwachsenen gilt Goethes Wort, daß Glück die Entwicklung unserer Fähigkeiten ist.“31 „Unsere Fähigkeiten“ jedoch äußern sich im kindlichen Egozentrismus und Egoismus und das heißt auch in seinen Gefühlen, die für Key ohnehin der deutlichste Indikator für Individualität sind32 Das Gesetz der Individuierung gilt so als Gesetz der kleinen Abweichung vom Typus, als Erfüllung der gattungsbezo- genen Anpassungsleistung durch die Freigabe und Förderung individueller Macht33 Key verbindet schließlich – in einer systematisch überhaupt nicht, aber praktisch überzeugenden Weise – die antike Tugendethik der Heranbildung edler, glücksfähiger und glücklicher Charaktere mit einem ganz und gar modernen Gedanken: der Überzeugung vom Wert des Neuen als eines Selbstzwecks. „Die noch weiterlebenden Instinkte des Affen“, so führt sie in einer anthropologischen Nebenbemerkung aus, „verdoppeln beim Menschen die Wirkung des Erblichkeitsgesetzes, und der Konservativismus ist daher bis auf weiteres in der Menschenwelt stärker als das Streben, neue Arten hervorzubringen. Aber dieses letztere ist das Wertvollste.“34

      Es dürfte deutlich geworden sein, wie weit sich Key in den Spuren Nietzsches von jeder herkömmlichen normativen Pädagogik entfernt und sich zwei Leitvorstellungen verschrieben hat, die von Christentum und Kantianismus gleichermaßen entfernt sind, ohne doch bedacht zu haben, ob und inwieweit diese Leitvorstellungen miteinander verträglich sind: hier das individuelle Glück, dort das Entstehen neuer Arten von Menschen. Ein Rückblick auf die klassischen, die antiken Theorien des Glücks, von Platon über Aristoteles bis hin zu den Epikuräern und Stoikern, würde sofort ergeben, daß sie alle von einer mehr oder minder konstanten Natur des Menschen und seiner Stellung im Kosmos ausgegangen sind und daher „Glück“ als eine Erfüllung menschlicher Wesensmöglichkeiten, nicht aber deren Neuerschaffung oder Neuerfindung verstehen. Auch die Ethiken des christlichen Abendlandes vertreten diese Auffassung, und noch Immanuel Kant hängt ihr in Teilen an. Sogar die nachidealistische Philosophie, namentlich bei dem christlichen Philosophen Kierkegaard und dem Aristoteliker Marx, zehrt von der Annahme einer gegebenen menschlichen Natur, hier in der Annahme ihrer konstitutiven Mangelhaftigkeit und Sündhaftigkeit, dort im Vertrauen auf ihre durch Praxis erreichbare Perfektibilität. Es war in der Tat erst Friedrich Nietzsche, der dieses – seit der Antike auch das Nachdenken über die Erziehung dominierende – Deutungsmuster außer Kraft gesetzt hat: An die Stelle eines Erfüllens vorgegebener und beschreibbarer Möglichkeiten des Menschen tritt jetzt der Gedanke seiner Neuerschaffung und mehr oder minder beliebigen Plastizität, eine Problematik, an der sich die philosophische Anthropologie von Scheler über Gehlen bis zu Plessner, von Mead über Foucault bis zu Judith Butler noch heute abarbeitet. Tatsächlich liegt СКАЧАТЬ