Название: Bildung und Glück
Автор: Micha Brumlik
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863936136
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De Sades Unterweisungen gleichen dem Versuch, eine einmal eingeübte und erworbene moralische Semantik abzuwerfen; indem er alle Mittel der Aufklärung und der Ideologiekritik aufbietet, um die Semantik der Moral ihrer Kontingenz zu überführen, setzt er auf eine Subjektivität, die der anderen nicht mehr bedarf, es sei denn zur Befriedigung ihrer Lust. Nichts anderes heißt „Souveränität“: „Die Ausdrücke Tugend und Laster geben uns ja doch nur“, so läßt de Sade seinen Helden Dolmance sagen, „ganz vage, abstrakte lokale Spezialbegriffe. Es gibt absolut keine Tat oder Handlung, sei sie noch so absonderlich, so schlecht, so verworfen, die wahrhaft verbrecherisch und lasterhaft wäre. […] Denn es gibt ja überhaupt kein Laster, kein Verbrechen, das sich nicht von irgendeinem Gesichtspunkte aus rechtfertigen ließe. […] Aus diesen rein geographisch unterschiedlichen Begriffen von Tugend und Laster ergibt sich, daß wir ebenso die Ehre und Achtung wie die Verachtung, die wir uns etwa bei unseren Mitmenschen zuziehen, nicht so sehr auf die Waagschale legen oder uns zu Herzen nehmen sollen.“22
De Sades Protagonisten huldigen einem hedonistischen Kalkül, wonach die Achtung anderer zu vernachlässigen sei, wenn aus verbrecherischen und lasterhaften Handlungen auch nur ein wenig Vergnügen oder Wonne resultiert. Daß diese Haltung allen Üblichkeiten widerspricht, weiß de Sade, sonst bedürfte es der pädagogischen Arrangements nicht. Tatsächlich bemüht er sich in seinen in der Philosophie im Boudoir enthaltenen politischen Utopien noch um den Nachweis, daß eine auf derartigen menschlichen Dispositionen aufbauende gesellschaftliche Ordnung sogar als demokratische Republik widerspruchsfrei lebbar sei. In de Sades Republik ist nicht nur der Mord straffrei gestellt, werden nicht nur alle Frauen auf Zeit in Bordellen kaserniert, gilt nicht nur das Gesetz der Natur, des Stärkeren, nein hier gilt, daß Macht allemal vor Recht geht.23 „Es handelt sich nicht darum, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, da dies allen Gesetzen der Natur zuwiderläuft und nur ihre Stimme alle Handlungen unseres Lebens leiten soll; es kann lediglich davon die Rede sein, unseresgleichen zu lieben wie Brüder oder Freunde.“24
Spätestens hier scheitert jedoch das Projekt einer partikularistischen Herrenmoral in der Theorie. Erstens muß de Sade seinen Gedanken der Souveränität aufgeben, wenn er doch eine vermeintliche Einsicht in die Notwendigkeit, eine Unterordnung des Handelns unter die Gesetze der Natur fordert. Zweitens kann er nicht mehr erklären, warum er dann dazu auffordert, ebenso natürlich entstehende altruistische Regungen auszumerzen und rein selbstbezogene Impulse zu kultivieren. Stichhaltige Gründe dafür, altruistischen Impulsen auf keinen Fall zu folgen, kann er nicht mehr aufbieten, außer jenem, daß damit sexueller Lustverzicht einhergeht und daß dieser Lustverzicht Ausdruck von Unfreiheit ist. De Sades Programm, vermeintlich Ausdruck ungezügelter Begierden, erweist sich schließlich als Philosophie der Freiheit als Willkür, der es vor allem darauf ankommt, sich von jedem natürlichen Altruismus zu lösen, der ihm letztlich als Ausdruck verhängter Unfreiheit gilt. Die Einleitung zum Roman Justine oder die Leiden der Tugend nennt das Programm der von ihm vertretenen Philosophie: „die Mittel und Wege zu erforschen, derer sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müßte sie dann Verhaltungsmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, daß er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat.“25
Aufklärerisch ist diese Philosophie, weil sie sich nachzuweisen bemüht, daß beinahe alles, was als Natur bezeichnet wird, lediglich Konvention ist; als „natürlich“ im Sinne der ersten Natur gelten de Sade lediglich selbstsüchtige Bestrebungen: „Denn unmöglich kann eine von der Natur angeregte Tätigkeit unrecht sein.“26 Entweder Unterordnung des Willens unter eine noch wohlwollende Natur oder seine bewußte Kultivation zum Bösen als Ausdruck von Freiheit – das eine widerspricht dem anderen, beides zugleich ist nicht möglich. Am Ende erweist sich, daß de Sade, ohne es zu bemerken, zwei Anthropologien folgt, die er nicht mehr aufeinander abstimmen kann. Damit erweist sich seine Philosophie aber als mindestens so brüchig wie die von ihm – so die Autoren der Dialektik der Aufklärung – kritisierten Gedanken einer auf Vernunft oder „guter“ Natur basierenden Moral. So sehr eine Theorie des Lasters das Komplement einer umfassenden, auch moralisch anspruchsvollen Theorie der Tugend ist, so wenig läßt sich eine Theorie lasterhaften Lebens widerspruchsfrei konstruieren. Rousseau hingegen war – realistischer als de Sade – in der Lage, die Widersprüchlichkeit des Seelenlebens als Realität und nicht nur als aufzuhebenden Schein wahrzunehmen: „Indem ich so zu den ersten Eindrücken meines Gefühlslebens zurückgehe, finde ich Elemente, die manchmal dem Scheine nach unvereinbar, sich doch so verbunden haben, um gewaltsam eine einheitliche und einfache Wirkung hervorzubringen, und wieder andre finde ich, die, scheinbar die gleichen, durch das Zusammentreffen bestimmter Umstände so verschiedene Verbindungen herbeigeführt haben, daß man nie auf die Vermutung kommen könnte, unter ihnen bestehe ein Zusammenhang.“27
Daran gemessen erweist sich de Sades Kritik an Rousseau als eine theoretische Regression – sein dualistisches und reduktionistisches Weltbild konnte realen Bildungsprozessen ebensowenig gerecht werden wie den zwanghaften, Unfreiheit verlängernden Zügen des Lasters. Auf Rousseaus Basis einer komplexen und in sich widersprüchlichen seelischen Entwicklung hingegen ließ sich eine Selbst- und Nächstenliebe integrierende Gefühlsbildung anstreben, die in der Neubestimmung der Tugenden als zweiter Natur gipfeln sollte.
Wenn eine derartige Theorie ethischer Bildung in Form einer „éducation sentimentale“, wie sie Rousseau und Kant nahelegten, zeitgemäß reformuliert werden soll, kommt es zunächst darauf an, die moralische Bedeutung der Gefühle zu entfalten.
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