Название: Bildung und Glück
Автор: Micha Brumlik
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863936136
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Für die Pädagogik resultierte aus dieser Schwierigkeit ein neues Programm der Bildung von Subjektivität.55 Dieses mehr als zweihundert Jahre alte Programm erfordert heute eine Klärung des Begriffs der Subjektivität im Lichte sozialwissenschaftlicher Theorien. Ob „Subjektivität“ sich als ein Ensemble von Rollen präsentiert oder als ein in sich geschlossenes psychisches System; ob sie sich selbst transparent und zudem hochindividualisiert ist; ob sie ein Geschlecht hat oder als Dreiheit von sex, gender und Begehren auftritt; ob sie das Gefängnis des Leibes darstellt und sich am Ende als Produkt historisch gewordener machtgeprägter Diskurse versteht56 – stets geht es um den begründeten Verdacht, daß die vermeintlichen Freiheitsgewinne der modernen Subjektivität in Wahrheit auf undurchschauten gesellschaftlichen Zwangsmechanismen beruhen. Diese Kritik beerbt letztlich die stoische Distanz zum irdischen Leben.
In der modernen Pädagogik jedoch, in der Linie von Jean-Jacques Rousseau zu Ellen Key interessieren die Subjekte vor allem als Menschen, die in voraussetzungsvollen Sozialisations- und Erziehungsprozessen ihre moralischen Gefühle bilden und mithin Objekt und Subjekt einer „éducation sentimentale“ sind. „Ich fühlte, ehe ich dachte“, heißt es in den Bekenntnissen, „das ist das gemeinsame Los der Menschheit.“57 Rousseau stand dafür, jene Gefühle bis hin zu dem Punkt bildend zu kultivieren, an dem sie den einzelnen Menschen in die Lage versetzen, in seiner politischen Gemeinschaft zu einem tugendhaften Bürger zu werden.
Tugenden sind, so wurde der Begriff eingeführt – unabhängig davon, ob man das klassische Gespann von Gerechtigkeit, Mut, Klugheit, Besonnenheit sowie Glaube, Liebe und Hoffnung oder einen anderen Kanon in Betracht zieht –, das Ensemble jener individuellen Verhaltensdispositionen, deren Zusammenspiel ein befriedigendes menschliches Leben verheißt. Wohlgemerkt: ein Ensemble! Eine Tugend tritt niemals allein auf; Tugenden haben es an sich, in welcher Kombination auch immer nur in Verbindung mit anderen aufzutreten. Dort, wo eine Tugend verabsolutiert wird, wie etwa das Streben nach Gerechtigkeit im Falle Michael Kohlhaas’, schlägt sie in Sünde um. Heilige und Helden sind keine tugendhaften Menschen. Tugenden sind aber auch nicht – wie vielfach mißverstanden – einfach der individuelle Niederschlag vorausgesetzter Werte. Tugenden sind vielmehr jene Eigenschaften von Personen, die es ihnen überhauptgestatten, sich zu vorfindlichen Werten ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse entsprechend verhalten zu können. Damit scheiden sie – nebenbei gesagt – als Kandidaten für pädagogisierende Moralfeldzüge von vornherein aus.
Entsteht jedoch mit dem Rekurs auf Tugenden nicht ein Problem für das Programm einer auf Demokratie und Partizipation zielenden, emanzipatorischen Pädagogik? Wird damit nicht das beste Vermächtnis einer ob ihres Intellektualismus ohnehin oft genug kritisierten Theorie preisgegeben? Wenn Moral die Lehre von den universal gültigen Kriterien richtigen Handelns ist, die Theorie der Tugenden jedoch eine Lehre von wesentlichen, in sich wertvollen Charaktereigenschaften, wie soll es dann möglich sein, zu einem Begriff der Moral, der Rechte und der Gerechtigkeit zu kommen? Rousseau gelang es nicht, diese Schwierigkeit, die später in der Marxschen Sozialphilosophie als Spannung von „bourgeois“ und „citoyen“ wieder auftauchen sollte, aufzulösen: „Wenn“, so heißt es im Emile, „anstatt einen Menschen für sich selbst zu erziehen, man ihn für die anderen erziehen will? Dann ist jeder Einklang unmöglich. Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutionen zu kämpfen, muß man sich für den Menschen oder den Staatsbürger entscheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen.“58
Rousseaus Alternative ist logisch gesehen nicht zwingend und behauptet gleichwohl ein reales Dilemma: Das Dilemma einer Bildung, die die einzelnen in die Lage versetzen will, ihr Glück zu finden, und sie zudem dazu befähigen möchte, für universale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten, stellt ein echtes, nicht nur begriffliches Problem dar, dem nur durch begriffliche Grundlagenarbeit und empirische Forschung beizukommen ist. Vor allem aber ist zu klären, inwieweit die so beanspruchte Theorie der Tugenden mehr sein kann als lediglich eine mit philosophischen Begriffen verbrämte Motivationspsychologie. Kann eine – sogar eine erneuerte – Ethik der Tugenden überhaupt systematische Ansprüche entfalten?
Theorien der Moral gelten im allgemeinen als Theorien der Kriterien richtigen, meist gerechten Handelns. Eine Theorie der Handlung jedoch, die sich nur auf die Begründung der Handlung und ihre absehbaren Wirkungen bezieht und nicht mindestens am Rande auch eine Theorie der Akteure und ihrer wesentlichen Eigenschaften enthält, bleibt systematisch halbiert. Eine richtige Handlung, die aus inakzeptablen Motiven vollzogen wurde, mag zwar immer noch insgesamt als besser gelten als ihre Unterlassung: Gleichwohl würde etwa eine Lebensrettung, die seitens des Retters ausschließlich und nur aus Gründen des Profits und der Ruhmsucht vollzogen wurde und die beim Fehlen dieser Bedingungen unterblieben wäre, kaum unsere Anerkennung als moralische Handlung finden. An dieser Problematik bricht das in der systematischen Moralphilosophie der Neuzeit verdrängte Thema der „Tugenden“ wieder auf und bestimmt seit neuestem den Fortgang der moralphilosophischen Debatte.
Dies zu bemerken, bedurfte es nicht erst der deutschen Übersetzung von Aufsätzen einer analytischen Philosophin, der in Oxford lehrenden Philippa Foot.59 Spätestens seit den Debatten um den Kommunitarismus60 und dem Erscheinen von Alasdair MacIntyres After Virtue im Jahre 1981 sowie den Arbeiten von Charles Taylor61 über starke Wertungen und die Quellen des modernen Selbst deutete sich an, daß die Frage nach den normativ ausgezeichneten Charaktereigenschaften von Personen nicht im engeren Bereich politischer Philosophie verbleiben würde. Es waren vor allem Entwicklungen des akademischen Feminismus im Rahmen der entwicklungspsychologischen Auseinandersetzung um die Denkbarkeit einer weiblichen Moral, die das hierzulande des Konservativismus verdächtige Thema auf die Tagesordnung setzte.62 Mit den Arbeiten etwa von Annette Baier oder Amelie Oksenberg-Rorty bzw. den deutschsprachigen Beiträgen so unterschiedlicher, oft einander entgegengesetzter Autorinnen wie Herlinde Pauer-Studer, Gertrud Nunner-Winkler und Onora O’Neill63, haben auch in Deutschland nicht nur ein neues Thema und ein neuer Tonfall, sondern auch ein erneuertes Paradigma in der Moralphilosophie Einzug gehalten. Betrachtet man außerdem die steigende Zahl von Veröffentlichungen zu Theorien des guten und geglückten Lebens sowie einer Ästhetik der Existenz,64 so zeigt sich, daß die von seriösen Moraltheoretikern aller Schulen bespöttelten Anstöße des späten Foucault zu einer Ethik der Selbstsorge65 nun ihre systematische Begründung erhalten. Die von Roger Crisp bzw. von E. F. Paul unter dem Titel How Should One Live oder Self-Interest herausgegebenen Anthologien sowie das schon 1992 erschienene Hauptwerk der neuen Richtung, Michael Slotes From Morality to Virtue, beweisen zudem, daß eine erneuerte Theorie der Tugenden in Argumentation und Begrifflichkeit ebenso „hart“ und technisch operieren kann, wie dies Utilitarismus und Kantianismus tun.
Im Zentrum der erneuerten, weil sich reflexiv auf die moderne Moralphilosophie beziehende Theorie der Tugenden steht ein Problem, das die reine, die kantianische Theorie der Moral ins Fach der empirischen Psychologie abschieben zu können glaubte: die Frage nach der Motivation zu einem von der Einsicht ins Richtige geleiteten Handeln. Aufgabe einer Theorie der Moral sei es, so die gängige Lesart, die mehr oder minder unbedingte Begründung von Kriterien richtigen Handelns, den „moral point of view“66, zu beweisen oder zu entfalten.
Die Beantwortung der Frage, ob und warum Menschen sich an diesen Kriterien orientieren, sei dagegen Aufgabe der Wissenschaft. Kant selbst war der Auffassung, daß die Triebfedern eines an moralischen Prinzipien, d. h. vor allem an moralischen Geboten ausgerichteten Handelns den Akteuren niemals zu Bewußtsein kommen können. Da Kant jedoch den Umstand durchaus anerkennt, daß die moralischen Akteure, СКАЧАТЬ