Karl der Große im Norden. Elena Brandenburg
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СКАЧАТЬ Annäherungen an die altostnordischen Texte. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Akkumulation verschiedenster Ansätze. Während die New Philology eine Dezentrierung des Textbegriffs fordert und die Unfestigkeit mittelalterlicher Texte betont, fokussiert sich die Polysystemtheorie dezidiert auf die Übersetzungen und deren Funktionen im neuen literarischen System. Den großen Bogen vom Frankreich des 11. Jahrhunderts bis nach Schweden und Dänemark im späten Mittelalters bildet das methodologisch offene Konzept des Kulturtransfers. Dieser ergänzt die eben genannten Theorien hinsichtlich der Identifizierung diskursiver Vorgänge in der Aufnahmekultur, welche den Transfer, d.h. die Übertragungen von altfranzösischen Heldengedichten begünstigt haben. Das ursprünglich auf die Dekonstruktion der Idee eines Nationalstaates hin entwickelte Konzept wird mit einigen grundsätzlichen Modifikationen auf den Transfer von chansons de geste übertragen. Diese Geschichten, deren Ursprünge im Verborgenen liegen, wurden zunächst mündlich überliefert, so die Epenentstehungstheorie, bevor sie seit dem 11. Jahrhundert schriftlich fixiert wurden,1 und sind größtenteils in französischen und anglonormannischen SammelhandschriftenSammelhandschrift des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert – sie sind also bereits Bearbeitungen der verlorenen Originaltexte. Die für diese Untersuchung primär interessante, da in altnorwegischen, altschwedischen und altdänischen Bearbeitungen erhaltene Chanson de RolandRoland ist in ihrer ältesten und berühmtesten Form in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen sog. Oxforder Handschrift2 überliefert, die auf den Text vom Ende des 11. Jahrhunderts zurückgeht. Ähnlich ist die Situation der altostnordischen Überlieferung dieses und einer Reihe weiterer Texte: Sie sind allesamt in Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts enthalten. Hier greift der Ansatz der New PhilologyNew Philology mit der radikalen Abkehr von einer Fokussierung auf das verlorene Original, das es wiederherzustellen gilt. Mit der erklärten prinzipiellen Unfestigkeit, der mouvance mittelalterlicher Texte sind alle Textzeugen gleichberechtigt und stellen unterschiedliche Lesarten dar. In Übereinstimmung mit der Forderung Glausers nach der Revision des Textbegriffs werden die übersetzten Texte als „Intertexte in einem literarischen Feld“3 verstanden – dies gilt auch für die altfranzösischen chansons de gestechansons de geste, die als Vorlagen für die ostnordischen Bearbeitungen fungieren. Gemäß dem kanonisierten Status der chansons de geste für das kollektive Gedächtnis Frankreichs, allen voran der Chanson de Roland, werden diese Texte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nach den von Aleida Assmann aufgestellten Kriterien Identitätsbezug, Rezeptionsverhalten, Kanonisierung sowie Überzeitlichkeit als kulturelle Texte behandelt.

      Welche Konsequenzen ergeben sich jedoch beim Transfer kultureller heldenepischer Texte in einen fremden Literatur- und Kulturraum, der über ein anderes kollektives Gedächtnis und ein differierendes Sagengedächtnis verfügt? Freilich kommt man nicht umhin, auch die Ausgangstexte in ihrer synchronen Überlieferung miteinzubeziehen. Hier wird zunächst ein prüfender Blick in die romanistische Forschung zu zentralen Fragenkomplexen, gattungsrelevanten Merkmalen und der Position der ausgewählten chansons de gestechansons de geste im Hinblick auf ihre Funktion im franko-romanischen Literatursystem nötig: Kann man hier von einer zentralen Position der schon früh kanonisierten Chanson de RolandRoland ausgehen, während andere, jüngere Texte, wie der für diese Untersuchung ebenfalls relevante Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople, der parodistische Züge abseits der typisch heldenepischen Karlsverehrung trägt, womöglich in der Peripherie anzusiedeln sind? Die Funktionsbestimmung der chansons de geste, ihre Position im eigenen literarischen System in chronologisch differierenden Phasen lässt sich mit Hilfe des funktionalistischen Ansatzes der PolysystemtheoriePolysystemtheorie im ersten Teil der Untersuchung feststellen. Mit der zielsprachigen Orientierung der Polsystemtheorie korrelieren auch der Ansatz des Kulturtransfers sowie Bourdieus Reflexionen im Hinblick auf die transnationale Ideenzirkulation – sie sind allesamt nicht dem „Primat des Ausgangsfeldes“4 verpflichtet, sondern werden kontextunabhängig transferiert. Es sind die strukturellen Faktoren im Aufnahmefeld bzw. -system, welche die Domestizierung der transferierten Texte gemäß einer internen Logik bestimmen. Diese strukturellen Faktoren in den neuen Aufnahmesystemen, dem schwedischen und dem dänischen, gilt es zu identifizieren. Hierfür werden synchron-überlieferungsgeschichtliche Kontextualisierungen vorgenommen: Die erhaltenen Texte werden als Intertexte in ihrer unmittelbaren kodikologischen Nachbarschaft auf die interne Logik der SammelhandschriftenSammelhandschrift Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4, Cod. Holm. D4aCod. Holm. D4a (Fru Märtas Bok), Cod. Holm. D3Cod. Holm. D3 (Fru Elins Bok), AM 191 fol.AM 191 fol. (Codex Askabyensis) sowie der Børglumer Handschrift Vu 82Cod. Holm. Vu 82 hin analysiert. Die Tatsache, dass die hier behandelten Texte in Sammelhandschriften erhalten sind, ist in vielerlei Hinsicht wichtig, ist doch davon auszugehen, dass die Kompilatoren dieser mittelalterlichen Anthologien mit Bedacht unterschiedliche Genres und Textformen zusammenstellten, profane wie religiöse. Die Dynamik einer solchen Sammelhandschrift kann laut Ad Putter auf dreifache Weise ausgelegt werden: kodikologisch („as an aspect of the history of manuscript production“5), strukturell („as an effect of the miscellany’s internal organization“) und diachron („as belonging to a crucial transitional phase in the history of a book“). Sowohl die Wahl der Texte als auch ihre Gruppierung erfolgten vor dem Hintergrund einer anzunehmenden internen Logik, einer Art „fil rouge“,6 die man hinter den kompilatorischen Intentionen vermutet. Jeder Text einer Sammelhandschrift sollte daher „both in its own right and as an actor of an inter-textual dialogue within the anthology“7 gelesen und interpretiert werden. So wird anhand der fünf Handschriften eine polysystemische Funktionsbestimmung innerhalb des kodikologischen Subsystems erreicht.

      Um der Frage nach der Position der Texte um Karl den Großen im altschwedischen und altdänischen Literatursystem nachzugehen, wird eine weitere Kontextualisierungsebene beschritten. Hierfür werden die politischen und kulturellen Entwicklungen im schwedischen bzw. dänischen Kulturraum zum Zeitpunkt der angenommenen Entstehungszeiträume der konkreten Handschriften präsentiert. Ausgehend von der These, Übersetzen sei eine politisch motivierte Aktivität und bedrohe die dominanten ideologischen und kulturellen Werte einer Gesellschaft durch „introducing a new semiotics of cultural signification, bringing into a receptor culture elements of an ideological framework which has been developed in an alien context“,8 können die übersetzten Texte als Reaktion auf die zeitgenössische historische und politische Entwicklung hin gelesen und interpretiert werden: Dienen die dominanten Modelle und Diskurse der altfranzösischen Texte zur Stärkung der eigenen Herrschaftsideologie? Stellen sie idealisierte Verhaltensnormen für die schwedische und dänische Aristokratie dar, ist das Interesse an diesen Stoffen der allgemeinen Entwicklung geschuldet, so etwa der Ritterrestauration in Dänemark des 15. Jahrhunderts? Die Bearbeitung der Fragen muss Objekt von Interpretationen bleiben, handelt es sich doch hierbei um fiktive, artifizielle Texte, für deren Einfluss auf die Gesellschaft und Politik dank der fragmentarischen Überlieferungslage nur wenige Evidenzen ausgemacht werden können. Dennoch erscheint auch dieser extrakodikologische Blick auf die Texte lohnend, da dieser eine weitere Lesart initiieren kann.

      Anschließende Analysen der erhaltenen Texte der altostnordischen Karlsdichtung soll im Hinblick auf die zuvor erarbeiteten, in den altfranzösischen chansonschansons de geste vorherrschenden Motive, Diskurse und Bilder die Frage nach der Übersetzbarkeit kultureller Texte beantworten. Ohne das korrelierende franko-romanische Sagengedächtnis verlieren die chansons ihren kanonisierten Status als Subjekt und zugleich machtvolles Speichermedium des kulturellen Gedächtnisses; ihre gattungsdistinktiven Elemente werden entsprechend den Bedingungen des ostnordischen literarischen Systems transformiert, um durch Adaption neuer Formen ein möglichst dynamisches, homogenes System zu erreichen. Auch die Techniken der Domestizierung der übertragenen Werte, Normen und Diskurse aus den altfranzösischen Epen werden in Übereinstimmung mit ihrer Kompatibilität mit dem sie aufnehmenden literarischen System zu bestimmen sein: Sollen die chansons innovatorisch wirken, indem sie näher an der Originalsprache bleiben, oder sind die Innovationen zu radikal, so dass eine Integration ins einheimische Literatursystem misslingt? Durch die sorgfältige Textanalyse wird man die Frage beantworten können, wie die transferierten Texte an den neuen kulturellen Horizont adaptiert werden, ob es sich hierbei um Übertragung, Nachahmung oder eine Form der produktiven Rezeption handelt, um mit dem Vokabular des Kulturtransferforschers Lüsebrink zu sprechen.

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