Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht. Gabriele Bergfelder-Boos
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      Aus der Vielzahl erzähltheoretischer Arbeiten greife ich auf die in der aktuellen Erzählforschung aufgrund ihrer wegweisenden, impulsgebenden Ansätze meist rezipierten Autorinnen und Autoren zurück und untersuche ihre Texte exemplarisch für die von ihnen vertretenen Forschungsrichtungen. Dasselbe gilt für alle weiteren Disziplinen (Kap.2.2.2) und die Auswahl der empirischen Studien (Kap. 2.5).

      Materialreduktion

      Was das erhobene Datenmaterial betrifft, so werde ich den Datensatz reduzieren und lediglich zwei Erzählstunden und die dazu gehörenden Interviews für eine systematische Datenaufbereitung und -auswertung vorsehen (zur Begründung der Auswahl s. Kap. 8.2.2). Die andern drei Erzählstunden werden in Form von Kurzberichten so aufbereitet, dass sie punktuell ergänzend herangezogen werden können.

      Umfang und Tiefe der theoretischen und empirischen Analyse

      Im Gegenzug zur Materialreduktion setze ich auf Tiefe und Präzision der Analyse. Aus diesem Grund werde ich ein umfangreiches Repertoire non-verbaler Zeichen zusammenstellen (Kap. 4.3) und deren performative Verwendung in den Erzählstunden (Kap. 9) analysieren. Die detaillierte Darstellung hat den Vorteil, reiches Material für die Entwicklung des Erzählkonzepts und Anschauungsmaterial für interessierte Praktikerinnen und Praktiker zu liefern, sie hat aber auch den Nachteil eines umfangreichen Textvolumens. Die Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende des Kapitels (Kap. 9.4) bietet dafür einen Ausgleich.

      Spiralförmiges Vorgehen und Bearbeitungszeit

      Die relativ lange Bearbeitungszeit und das Hin und Her zwischen theoretischer und empirischer Arbeit bot die Chance, theoretische Ansätze und Analyseinstrumente zu überarbeiten und zu schärfen sowie neue Impulse aufzunehmen. Dies betrifft vor allem einige empirische Studien, die ich vor, während und auch nach Abschluss der Datenauswertung nicht als Forschungsgrundlage (Kap. 2.2.2), sondern als Impulsgeber für ausgewählte Aspekte der Potenzialrecherche nutzen konnte. Diese Zusammenhänge werden im folgenden Kapitel gezeigt.

      2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen

      Die von mir ausgewählten empirischen Untersuchungen sind – mit einer Ausnahme – in den Nullerjahren der Erst-, Zweit- und der Fremdsprachenforschung entstanden. Es handelt sich um Studien zur Sprach- und Erzählentwicklung vor allem von Kindern im Grundschulalter (Becker 2013a). Sie sind für mein Forschungsprojekt von besonderem Interesse, weil sie ihre Fragestellungen mit denen der Erzählforschung und -didaktik verbinden. Ziel der Erzählforschung der Nullerjahre war es, in kritischer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Erzählforschung der 80er und 90er Jahre (z.B. dem Stufenmodell von Boueke et al. 1995) Neuansätze einer Erzähldidaktik zu entwickeln, die bisher vernachlässigte Faktoren der Erzählentwicklung und ihrer Förderung in der Schule berücksichtigt. Dazu gehören z.B. die Abhängigkeit der Erzählkompetenz von der Erzählsituation und dem Erzählgenre (Becker 2013b) sowie die Aktivierung von Ressourcen des Wissens und Könnens der Lernenden und der Erzählsituation (Schramm 2006). In den Zehnerjahren ziehen Becker / Wieler 2013b in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Erzählforschung und Erzähldidaktik heute eine erste Bilanz der Bemühungen um Einwirkung auf die Erzählwirklichkeit der Schule:

      Der Blick auf die Schulpraxis stellt sich für die gegenwärtige Erzählforschung und Erzähldidaktik als besondere Herausforderung dar, zumal dort trotz der festen Verankerung im Curriculum, und damit auch im Unterricht vor allem der Primarstufe, weder ein erzähldidaktisches Konzept noch ein Konzept von Erzählen selbst konsensfähige Verbreitung gefunden haben. Als mögliche Ursache dafür wurde angeführt, dass viele didaktische Ansätze unvermittelt nebeneinander stehen, und selbst aktuelle Förderkonzepte für das Vor- und Grundschulalter schwer miteinander vereinbar sind. Damit einher geht wiederum, dass maßgebliche Erkenntnisse der Erzählforschung die (Vor-)Schulpraxis nicht erreichen. (Becker / Wieler 2013b: 7f.)

      Das von Becker / Wieler evozierte Desiderat, das sich auf den Erstsprachenunterricht bezieht, stellt für mich einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar. In meinem Forschungsansatz verbindet sich – wie von Becker / Wieler angemahnt – die Suche nach dem Potenzial mündlichen Erzählens mit der Absicht, die konkreten Bedingungen des Erzählens anhand konkreter Unterrichtsaktionen zu erforschen und auf dieser Basis ein konsensfähiges performatives Erzählkonzept für den Fremdsprachenunterricht zu entwickeln. Möglicherweise kann die Verknüpfung von Weiterbildung und Elementen von Aktionsforschung, die meiner Forschungsarbeit zugrunde liegt, einen Beitrag zu der von Becker / Wieler anvisierten Praxiseinwirkung leisten (Kap. 11.3.3).

      Die ausgewählten empirischen Studien werden im Folgenden kurz vorgestellt und deren Impulse für die Studie benannt.

      Flader / Hurrelmann 1984: eine Studie zum freien Erzählen in der Erstsprache

      Die von Dieter Flader und Bettina Hurrelmann zu Beginn der 80er Jahre durchgeführte Studie zum freien Erzählen im Unterricht (1984: 223-241) ist für meine Studie im Hinblick auf ihre Fragestellungen und Analysekriterien von Interesse. Flader / Hurrelmann untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen das freie, spontane, alltägliche Erzählen im Unterricht möglich ist. Das empirische Material der Studie bilden die in der Erstsprache der Probanden durchgeführten Erzählstunden in zweiten und dritten Grundschulklassen. Zielgenre ist die mündlich erzählte Erlebnisgeschichte. Die Analyse der Erzählstunden geht zwei Leitfragen nach:

      Welche Idee von einer ‚guten Erzählung‘ dient dem Lehrer, der ‚freies‘ Erzählen in den Unterricht aufnimmt, als Orientierungspunkt für seine Kommentare und Interventionen? […] Welche Konflikte ergeben sich für den Lehrer und die Schüler aus dem Transfer der Form des alltäglichen Erzählens in die Unterrichtssituation? (Flader / Hurrelmann 1984: 226)

      Zur Analyse der Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden wird ein dreigliedriges Interaktionsschema zur Einbettung des Erzählens in den Klassenzimmerdiskurs entwickelt. Auf der Basis des Interaktionsschemas werden Charakteristika der narrativen Interaktion zwischen den erzählenden Kindern und den Lehrkräften, die die Erzählungen der Kinder begleiten, herausgearbeitet. Zwei Impulse für meine Studie zum Erzählen als Performance ergeben sich aus den Erzählstundenanalysen von Flader / Hurrelmann:

      1 Die von ihnen erarbeiteten Einmischungsstrategien der Lehrkräfte boten mir schon vor der Lektüre der Studie von Schramm 2006 Anregungen zur Entwicklung von Kriterien zur Analyse der Rolle von Lehrkräften in der narrativen Interaktion.

      2 Die Frage nach den Vorstellungen der Lehrkräfte von einer ‚guten Erzählung‘ und nach möglichen Konflikten, die sich aus dem Transfer dieser Vorstellungen in die Unterrichtspraxis ergeben und die nach Einschätzung von Becker / Wieler (2013b) immer noch ein Problem der Erzählpraxis in der Schule darstellen, haben mich dazu angeregt, die Rolle von Erzählkonzepten der Weiterbildungsstudierenden zu reflektieren und sie in die Interpretation meiner Analyseergebnisse einzubeziehen.

      Karen Schramm 2006: eine Studie zur Interaktion bei Erzählungen in der Zweitsprache

      Die von Schramm durchgeführte Studie zur narrativen Interaktion in der Grundschule (mit dem Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache) ist für meine Studie interessant im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kriterien zur Analyse von Lehrkräftestrategien (Flader / Hurrelmann 1984), die Schramm als narrative Scaffolding-Verfahren vorstellt. Das empirische Material der Studie bilden Interaktionen von Lehrkräften mit Schülerinnen und Schülern der ersten und zweiten Klassen der Grundschule, von denen im Durchschnitt 80 Prozent Deutsch als Zweitsprache sprechen. Schramm untersucht das Potenzial schulischen Erzählens für die langfristige zweitsprachige Förderung in der Grundschule. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das narrative Scaffolding, d.h. die Unterstützung der Lernenden durch soziale Interaktion. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen

      […] Korrekturen, bei denen СКАЧАТЬ