Der Briefträger gab ihm einen Stapel Zeitungen. Dann fügte er hinzu:
»Und jetzt, Herr Baron, habe ich eine Neuigkeit für Sie.«
»Eine Neuigkeit?«
»Einen Brief … und noch dazu einen eingeschriebenen.«
Einsam, ohne Freunde, ohne einen Menschen, der sich um ihn kümmerte, bekam der Baron niemals Briefe. Sofort erschien ihm dieser als das schlechte Vorzeichen irgendeines kommenden Ereignisses, über das sich zu beunruhigen er allen Grund hatte. Wer war dieser geheimnisvolle Schreiber, der ihn in seiner Ruhe störte?
»Sie müssen unterschreiben, Herr Baron.«
Leise fluchend unterschrieb er. Dann nahm er den Brief, wartete, bis der Briefträger hinter der Wegbiegung verschwunden war, und nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, trat er hinter die Brüstung der Brücke und riss den Umschlag auf. Er enthielt ein quadriertes Blatt Papier mit dem handgeschriebenen Briefkopf: Gefängnis de la Santé, Paris. Er sah auf die Unterschrift: Arsène Lupin. Verstört las er:
»Sehr geehrter Baron Cahorn!
In dem Korridor, der Ihre beiden Säle miteinander verbindet, hängt ein Bildnis Philippes de Champaigne von ausgezeichneter Qualität, das mir sehr gefällt. Ihre Rubens sind auch nach meinem Geschmack, ebenso wie auch Ihr kleinerer Watteau. In dem rechten Saal weiß ich von dem Kredenztisch Ludwigs XIII., den Wandteppichen von Beauvais, dem kaiserlichen Leuchtertisch, mit ›Jacob‹ signiert, und der Renaissance-Truhe. In dem Saal auf der linken Seite finde ich die Vitrine mit den Schmuckstücken und den Miniaturen.
Dieses Mal werde ich mich mit den Gegenständen zufriedengeben, die, wie ich glaube, leicht zu verkaufen sind. Ich möchte Sie darum bitten, sie entsprechend zu verpacken und portofrei innerhalb von acht Tagen auf meinen Namen zum Bahnhof Batignolles zu schaffen. Sollten Sie meiner Bitte nicht nachkommen, werde ich selbst in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag, dem 28. September, ihren Abtransport vornehmen. Und dann werde ich mich nicht – Gerechtigkeit muss sein – nur mit den oben erwähnten Gegenständen zufriedengeben.
Bitte entschuldigen Sie die kleine Störung.
Hochachtungsvoll Arsène Lupin
PS. – Bitte schicken Sie auf keinen Fall den größeren der beiden Watteaus. Obgleich Sie für ihn bei der Versteigerung dreißigtausend Francs bezahlt haben, ist es nur eine Kopie, das Original wurde unter dem Direktorium von Barras an einem Orgienabend verbrannt. Prüfen Sie diese Angabe in den noch nicht erschienenen Memoiren von Garat nach.
Ich lege auch keinen Wert auf die Gürtelkette Ludwigs XV., deren Echtheit mir fragwürdig erscheint.«
Dieser Brief erschütterte Baron Cahorn. Hätte ein anderer ihn unterschrieben, hätte er sich schon beträchtlich beunruhigt, aber Arsène Lupin!
Als eifriger Zeitungsleser und somit auf dem Laufenden über dies, was sich in der Welt an Diebstählen und Verbrechen zutrug, kannte er alle Heldentaten des verteufelten Einbrechers. Natürlich wusste er, dass Lupin in Amerika von seinem Feind Ganimard verhaftet und hinter Schloss und Riegel gesetzt worden war und dass man – mit welcher Mühe! – seinen Prozess vorbereitete. Aber er wusste auch, dass man bei ihm auf alles gefasst sein musste. Außerdem war diese genaue Kenntnis des Schlosses, der Plätze der Gemälde und Möbel eine furchtbare Bedrohung. Wer hatte ihn über diese Dinge unterrichtet, die doch niemand je gesehen hatte?
Der Baron hob den Blick und betrachtete die schroffe Silhouette des Malaquis, seinen abschüssigen Sockel, das tiefe Wasser, das ihn umgab, und zuckte mit den Schultern. Nein, es bestand ganz entschieden keine Gefahr. Kein Mensch auf der Welt konnte bis zum unantastbaren Heiligtum seiner Sammlungen vordringen.
Niemand, gut, aber Arsène Lupin? Gibt es für Arsène Lupin Türen, Zugbrücken, Mauern? Wozu dienen die so kunstvoll eingerichteten Hindernisse, die geschicktesten Vorsichtsmaßnahmen, wenn Arsène Lupin beschlossen hat, das Ziel zu erreichen?
Am gleichen Abend noch schrieb Baron Cahorn an den Staatsanwalt von Rouen. Er legte den Drohbrief bei und forderte Schutz und Hilfe.
Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Da der besagte Arsène Lupin gegenwärtig in der Santé festgehalten und sorgfältig überwacht wurde und somit nicht in der Lage war, Briefe zu schreiben, konnte dieser Brief nur das Werk eines Spaßvogels sein. Alles bewies diese Annahme, die Logik, der gesunde Menschenverstand und auch die Tatsachen selbst. Vorsichtshalber hatte man jedoch einen Sachverständigen beauftragt, die Handschrift zu begutachten. Dieser hatte erklärt, dass diese Schrift trotz gewisser Ähnlichkeiten nicht die des Häftlings sei.
»Trotz gewisser Ähnlichkeiten«; der Baron behielt nur diese drei bestürzenden Worte, in denen er das Zugeständnis eines Zweifels sah, der allein hätte genügen müssen, damit das Gericht eingriff. Seine Befürchtungen steigerten sich. Immer wieder las er den Brief. »Ich werde selbst den Abtransport vornehmen.« Und dieses genaue Datum: »in der Nacht vom Mittwoch, dem 27., zum Donnerstag, dem 28. September …« Argwöhnisch und schweigsam, wie er war, wagte der Baron es nicht, sich seinen Dienstboten anzuvertrauen, deren Ergebenheit ihm nicht über jeden Verdacht erhaben schien. Doch fühlte er zum ersten Mal seit Jahren das Bedürfnis, sich auszusprechen, sich einen Rat zu holen. Von dem Gericht seines Landes im Stich gelassen, glaubte er nicht mehr daran, sich mit seinen eigenen Mitteln verteidigen zu können; so stand er kurz vor dem Entschluss, nach Paris zu fahren und einige alte Kriminalbeamte um ihre Hilfe zu bitten.
Zwei Tage vergingen. Als er am dritten Tag die Zeitungen las, zitterte er vor Freude. Die Zeitung Réveil de Caudebec veröffentlichte eine Kurznotiz:
»Wir haben die Ehre und Freude, seit fast drei Wochen den Chefinspektor Ganimard, einen der Veteranen des Sicherheitsdienstes, in unseren Mauern beherbergen zu dürfen. Herr Ganimard, dem die Verhaftung Arsène Lupins, seine letzte Heldentat, die Anerkennung ganz Europas eingetragen hat, erholt sich von seinen langen Strapazen beim Fischen von Gründlingen und Barschen.«
Ganimard! Das war genau die richtige Hilfe, die Baron Cahorn suchte! Wer könnte Lupins Pläne besser vereiteln als der listige und beharrliche Ganimard?
Der Baron zögerte keine Minute. Sechs Kilometer trennen das Schloss von der kleinen Stadt Caudebec. Er durchquerte sie leichten Schrittes wie ein Mensch, den die Hoffnung auf Rettung beflügelt.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Adresse des Chefinspektors zu erfahren, wandte er sich an das Büro der Réveil, das sich an der Uferstraße der Seine befand. Dort fand er den Verfasser der Kurznotiz, der, während er zum Fenster ging, sagte: »Ganimard? Sie treffen ihn bestimmt auf der Uferstraße mit der Angel in der Hand. Dort haben wir uns kennengelernt und dort habe ich auch zufällig seinen in die Angelrute eingravierten Namen gelesen. Sehen Sie, es ist der kleine Alte, der dort unter den Bäumen auf der Promenade sitzt.«
»Der mit dem Gehrock und dem Strohhut?«
»Genau! Er ist ein komischer Alter, schweigsam, fast griesgrämig.«
Fünf Minuten später sprach der Baron den berühmten Ganimard an, stellte sich vor und versuchte, eine Unterhaltung einzuleiten. Als ihm das nicht gelang, ging er geradewegs auf sein Ziel zu und legte ihm seinen Fall auseinander.
Der andere hörte unbeweglich zu, ohne den Fisch, den er erspähte, aus den Augen zu lassen, dann wandte er ihm den Kopf zu, maß ihn voll Mitleid von oben bis unten und sagte:
»Mein Herr, es ist ungewöhnlich, die Leute, die man ausrauben will, zu benachrichtigen. СКАЧАТЬ