Название: Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner
Автор: Морис Леблан
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783751800426
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Ich zögerte eine Sekunde. Mit einem kurzen Schlag traf er mich auf den rechten Unterarm. Ich stieß einen Schmerzensschrei aus. Er hatte auf die noch schlecht verheilte Verletzung geschlagen, die das Telegramm angekündigt hatte.
Ich musste aufgeben. Ich drehte mich zu Miss Nelly. Fahl und wankend verfolgte sie das Gespräch.
Unsere Blicke trafen sich, dann senkten sich ihre Augen auf die Kodak, die ich ihr gegeben hatte. Sie machte eine plötzliche Bewegung, und ich hatte den Eindruck, ich hatte sogar die Gewissheit, dass sie plötzlich verstand. Ja, dort zwischen den engen Wänden aus schwarzem Chagrinleder, in der Vertiefung des kleinen Apparates, den ich ihr vorsichtshalber in die Hände gespielt hatte, bevor Ganimard mich verhaftete, dort befanden sich die zwanzigtausend Francs von Rozaine, die Perlen und Diamanten der Lady Jerland.
Oh, ich beschwöre es, in diesem feierlichen Augenblick, während Ganimard und zwei seiner Helfer mich umringten, war mir alles gleichgültig, meine Verhaftung, die Feindschaft der Leute, alles, außer dem einen: die Entscheidung, die Miss Nelly bezüglich dessen, was ich ihr anvertraut hatte, treffen würde.
Ich fürchtete mich nicht vor diesem materiellen und entscheidenden Beweis gegen mich, aber ich hatte Angst davor, dass sich Miss Nelly entschließen würde, diesen Beweis zu liefern.
Würde sie mich verraten? Ich durch sie verloren sein? Würde sie als Feindin handeln, die nicht verzeiht, oder als Frau, die sich erinnert und deren Verachtung durch ein wenig Nachsicht, ein wenig unfreiwillige Sympathie gemildert wird?
Sie ging an mir vorbei. Ich grüßte sie tief, wortlos. Inmitten der anderen Reisenden ging sie zur Gangway, meine Kodak in der Hand.
Ohne Zweifel, dachte ich, traut sie sich nicht, in der Öffentlichkeit zu handeln. In einer Stunde, in einem Augenblick wird sie den Beweis vorlegen.
Aber als sie auf der Mitte der Gangway angekommen war, ließ sie den Apparat durch eine scheinbar ungeschickte Bewegung zwischen die Kaimauer und die Bordwand ins Wasser fallen. Dann sah ich, wie sie davonging.
Ihre schöne Silhouette verlor sich in der Menge, erschien von Neuem und verschwand. Es war zu Ende, für immer zu Ende.
Einen Augenblick blieb ich unbeweglich, zugleich traurig und gepackt von einer sanften Rührung, dann seufzte ich zum höchsten Erstaunen Ganimards:
»Trotz allem schade, dass man kein ehrlicher Mensch ist …«
So erzählte mir an einem Winterabend Arsène Lupin die Geschichte seiner Verhaftung. Der Zufall von Zwischenfällen, die ich in einigen Tagen aufschreiben werde, hatte zwischen uns Bande – soll ich sagen der Freundschaft geknüpft. Ja, ich wage zu glauben, dass Arsène Lupin mich mit ein wenig Freundschaft auszeichnete, und aus Freundschaft kommt er manchmal unvorhergesehen zu mir und bringt in die Stille meines Arbeitszimmers seine jugendliche Ausgelassenheit, die Ausstrahlung eines abenteuerlichen Lebens, seine heitere Menschenlaune, für die das Schicksal nur Gunstbezeigungen und Lächeln hat.
Sein Porträt? Wie könnte ich es wiedergeben? Zwanzigmal habe ich Arsène Lupin gesehen, und zwanzigmal ist mir ein anderes Wesen erschienen … oder eher dasselbe Wesen, von dem zwanzig Spiegel mir ebenso viele verschiedene Bilder wiedergaben, jedes hatte seine besonderen Augen, seine spezielle Gesichtsform, seine eigenen Gesten, seine Gestalt und seinen Charakter.
»Ich selbst«, sagte er zu mir, »weiß nicht mehr genau, wer ich bin. Nicht einmal in einem Spiegel erkenne ich mich.«
Sicher war es sein paradoxer Einfallsreichtum, aber tatsächlich war er für die, die ihm begegnet sind und seine unerschöpflichen Hilfsmittel nicht kannten, seine Ausdauer, seine Kunst des Schminkens, seine wunderbare Fähigkeit, sogar die Proportionen seines Gesichts zu verändern und dessen Züge zu verstellen, jedes Mal ein völlig anderer Mensch.
»Warum«, fügte er hinzu, »soll ich eine bestimmte Erscheinung haben? Warum soll ich nicht diese Gefahr einer immer identischen Persönlichkeit vermeiden? Meine Taten zeichnen mich ausreichend.«
Und mit einem Funken Stolz sagte er:
»Umso besser, wenn man niemals mit völliger Sicherheit sagen kann: Dies ist Arsène Lupin! Die Hauptsache ist, dass man ohne Furcht vor einem Irrtum sagt: Arsène Lupin hat das getan.«
Nach seinen vertraulichen Mitteilungen will ich versuchen, einige seiner Taten und Abenteuer wiederzugeben, so, wie er sie mir an langen Winterabenden in der Stille meines Arbeitszimmers freundschaftlich erzählte.
ARSÈNE LUPIN IM GEFÄNGNIS
Jeder gute Pariser Wanderer kennt die Ufer der Seine, und sicher ist jedem auf dem Weg von den Ruinen von Jumièges zu den Ruinen von Saint-Wandrille das seltsame kleine Feudalschloss des Malaquis aufgefallen, das so stolz auf seinem Felsen inmitten des Flusses steht. Eine Bogenbrücke verbindet es mit der Straße. Das Fundament seiner düsteren Türme verschwimmt mit dem Granit der Insel, einem gewaltigen Felsbrocken, von dem man nicht weiß, von welchem Gebirge er sich gelöst hat, und der durch irgendeinen großen Erdrutsch dorthin geworfen sein muss. Rundherum plätschert das ruhige Wasser des großen Flusses im Schilf, und Bachstelzen stolzieren auf den feuchten Steinen.
Die Geschichte des Malaquis ist ebenso düster wie sein Name, ebenso unfreundlich wie seine Silhouette. Hier gab es stets nur Kämpfe, Belagerungen, Bestürmungen, Plünderungen und Gemetzel. In den Spinnstuben der Landschaft Caux erzählt man mit prickelndem Grauen die Verbrechen, die hier begangen wurden. Da gibt es geheimnisvolle Legenden; man erinnert sich an den berühmten unterirdischen Gang, der einstmals zur Abtei von Jumièges und zur Burg der Agnès Sorel, der schönen Freundin Karls VII., führte.
In diesem alten Schlupfwinkel der Helden und Strauchdiebe wohnt der Baron Nathan Cahorn, der Baron Satan, wie man ihn früher an der Börse nannte, an der er sich zu plötzlich bereichert hatte. Die Herren von Malaquis, ruiniert wie sie waren, haben ihm für ein Butterbrot das Schloss ihrer Vorfahren verkaufen müssen. Dort hat er seine wunderbaren Sammlungen von alten Möbeln und Gemälden, Steingut und Schnitzereien untergebracht. Der Baron lebt allein in dem Schloss mit drei alten Dienstboten. Niemand hat es jemals betreten. Niemand hat jemals die Ausstattung dieser antiken Säle, die drei Rubens, die beiden Watteaus, seinen Stuhl von Jean Goujon und alle anderen Kostbarkeiten gesehen, die er den reichsten Stammkunden auf den Versteigerungen durch Überbieten entrissen hat.
Baron Satan hat Angst. Er hat nicht nur um seiner selbst willen Angst, sondern auch wegen seiner Schätze, die er mit zäher Leidenschaft und dem Scharfsinn eines Liebhabers gesammelt hat, dass sich die gewieftesten Händler nicht rühmen können, ihn betrogen zu haben. Er liebt sie. Er liebt sie so gierig wie ein Geizhals, so eifersüchtig wie ein Verliebter.
Jeden Tag bei Sonnenuntergang werden die vier eisengeschmiedeten Pforten, die sich am äußersten Ende der Brücke und am Eingang zum Schlosshof befinden, geschlossen und verriegelt. Bei der geringsten Berührung schrillt eine Alarmglocke durch die Stille. Von der Wasserseite der Seine her ist nichts zu befürchten, denn dort ragt der Felsen steil in die Luft.
An einem Freitag im September erschien der Briefträger wie gewöhnlich am anderen Ende der Brücke. Und wie jeden Tag öffnete der Baron den schweren Türflügel nur einen Spalt.
Er sah den Mann so genau an, als kenne er dieses gute, heitere Gesicht mit seiner Bauernschläue in den Augen nicht schon seit Jahren.
Der Mann lachte:
»Ich bin es immer noch, Herr Baron. Ich bin kein anderer, der vielleicht СКАЧАТЬ