Название: The New Jim Crow
Автор: Michelle Alexander
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783956141591
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Dass dem Ende der Sklaverei ein System wie Jim Crow folgte, verwundert kaum jemand. In Geschichtsbüchern wird dies als zwar bedauerliche, aber angesichts des virulenten Rassismus des Südens und der politischen Dynamik jener Zeit vorhersehbare Entwicklung beschrieben. Viel beachtlicher ist da schon, wie nahezu unbemerkt in den Jahren nach dem Zusammenbruch von Jim Crow eine ganz ähnliche politische Dynamik bald wieder ein neues Kastensystem entstehen ließ – eines, das bis heute fortbesteht. Im »Black History Month«, alljährlich im Februar in den USA begangen, wird gewöhnlich eine Erfolgsgeschichte präsentiert: Offiziell gilt das System der rassisch definierten Kasten als überwunden und begraben. Wer das Gegenteil behauptet, erntet ungläubiges Staunen. »Wie kommen Sie darauf, dass heutzutage ein rassistisches Kastensystem existiert? Denken Sie mal an Barack Obama! Oder an Oprah Winfrey!«, heißt es dann.
Doch der Erfolg einiger Afroamerikaner bedeutet noch lange nicht, dass es so etwas wie ein rassisches Kastensystem nicht mehr gibt. Ein solches System hat in den Vereinigten Staaten nie für alle Schwarzen im gleichen Maß gegolten. Es gab immer »freie Schwarze« und Schwarze, die es in der Gesellschaft zu etwas bringen konnten, sogar in Zeiten von Sklaverei und Jim Crow. Wenn heute einige Schwarze auch in ehemals rein weißen Domänen sensationelle Erfolge erzielen, so bedeutet dies allenfalls, dass das alte Jim-Crow-System tot ist, aber nicht notwendigerweise das Ende des rassischen Kastensystems überhaupt. Wenn man irgendwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht dass das System einfach eine andere Form gefunden hat.
Wer die Geschichte der amerikanischen Rassenbeziehungen kennt, der weiß, wie wandlungsfähig Rassismus ist. Die Regeln und Begründungen, mit denen das politische System gesellschaftliche – auch rassische – Hierarchien durchsetzt, wandeln sich mit dem Lauf der Zeit. Die heroischen Anstrengungen, Sklaverei und Jim Crow zu Fall zu bringen und für mehr Gleichheit unter den ethnischen Gruppierungen zu sorgen, veränderten stark das rechtliche Rahmenwerk der amerikanischen Gesellschaft – sie sorgten sozusagen für neue »Spielregeln«. Diese neuen Regeln wurden von neuen Schlagworten, einer neuen Sprache und einer neuen gesellschaftlichen Übereinkunft begleitet, während im Ergebnis vieles beim Alten blieb. So kam es zum »Stillstand durch Veränderung« – dem Prozess, der die weiße Vorherrschaft auch unter veränderten Rahmenbedingungen und mit einer gewandelten Rhetorik aufrechterhält.1
Was man für die heutige Zeit oft nicht so leicht erkennt, ist im Rückblick deutlicher zu sehen. Seit Gründung der USA wurden Afroamerikaner immer wieder durch Systeme wie die Sklaverei und Jim Crow unterdrückt. Ließen sich diese Systeme nicht mehr halten, erstanden sie alsbald in veränderter Form wieder, angepasst an die Erfordernisse einer neuen Ära. Das Muster ist immer gleich: Auf den Zusammenbruch eines solchen Kontrollsystems folgt stets eine Zeit der Unsicherheit und des Übergangs, in der die Verfechter einer Rassenhierarchie Möglichkeiten ersinnen, sie auch unter den neuen Spielregeln zu etablieren. In dieser Phase tastender Versuche verstärkt sich der Widerstand gegen die Veränderungen, und neue Formen rassistischer Sozialkontrolle schlagen Wurzeln. Unvermeidlich ist die Entstehung eines neuen Kontrollsystems sicher nicht, wenn sie auch bis heute noch nie vermieden worden ist. Die Verfechter einer Rassenhierarchie konnten sich am Ende immer durchsetzen. Dieses Kunststück vollbrachten sie weitgehend durch Appelle an den Rassismus und die Ängste der weißen Unterschicht, eine Gruppe, der verständlicherweise daran gelegen ist, sich nicht selbst am untersten Rand der amerikanischen Gesellschaft wiederzufinden.
Solche Kontrollsysteme entstehen nur scheinbar aus dem Nichts. Die Geschichte lehrt, dass sie stets aus einer lang zuvor ausgebrachten Saat erwachsen. So folgte Jim Crow der Reconstruction keineswegs auf dem Fuß, sondern entwickelte sich in einem komplexen Prozess. Und während die Gegenbewegung zur Bürgerrechtsbewegung hauptsächlich in der Beschneidung von Fördermaßnahmen für Minderheiten wie der sogenannten Affirmative Action und der Aushöhlung der Bundesgesetzgebung zu den Bürgerrechten durch eine feindliche Judikative gesehen wird, wurde ein neues Kontrollsystem – die Masseninhaftierung – bereits im Kern angelegt, als die Bürgerrechtsbewegung noch aktiv war und klar wurde, dass das alte Kastensystem in Auflösung begriffen war.
Mit jeder Reinkarnation wird das rassische Kastensystem »weniger total, weniger fähig, die ganze Rasse zu umfassen und zu kontrollieren«.2 Doch in dieser Entwicklung einen linearen Fortschritt zu sehen, ist töricht, denn ob es besser ist, wegen eines kleinen Drogenvergehens sein ganzes Leben im Gefängnis zu verbringen, als unter der Herrschaft von Jim Crow im Kreis seiner Familie ehrlich sein Einkommen zu verdienen, ist durchaus fraglich – selbst wenn man berücksichtigt, dass einem dabei ständig auch noch der Ku-Klux-Klan im Nacken saß. Zudem haben sich die Kontrollsysteme weiterentwickelt und perfektioniert, sie sind widerstandsfähiger gegen Herausforderungen geworden und können sich so über viele Generationen perpetuieren. Ein Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Fundamente der Staatsgründung wirft einiges Licht auf dieses Dauerthema der amerikanischen Geschichte und zeigt, warum immer wieder neue rassische Kastensysteme entstehen.
Die Entstehung der Sklaverei
Damals, vor Jim Crow, vor der Erfindung des Negers und des Weißen und all der Worte und Begriffe, mit denen sie beschrieben wurden, war die Bevölkerung in den Kolonien hauptsächlich eine große Masse weißer und schwarzer Leibeigener, die wirtschaftlich ungefähr alle auf derselben Stufe standen und von den Plantagenbesitzern wie den Gesetzgebern mit derselben Verachtung behandelt wurden. Seltsam unbekümmert um ihre Hautfarbe arbeiteten und lebten diese Menschen Seite an Seite.3
Lerone Bennett
Die Idee der »Rasse« ist eine relativ neue Entwicklung. Erst in den letzten Jahrhunderten und hauptsächlich als Folgeerscheinung des europäischen Imperialismus wurden die Menschen der Welt nach rassischen Gesichtspunkten klassifiziert.4 In Amerika entwickelte sich die Idee der Rasse, um den Besitz von Sklaven – und die Auslöschung der amerikanischen Ureinwohner – mit den Freiheitsidealen in Einklang zu bringen, die die Weißen in den neuen Kolonien predigten.
In der frühen Kolonialzeit, als die Siedlungen noch relativ klein waren, sorgte hauptsächlich das System der Schuldknechtschaft für billige Arbeitskräfte: Viele Kolonisten bezahlten die Überfahrt, indem sie sich für eine gewisse Zahl von Jahren verdingten. Weiße wie Schwarze rackerten sich gleichermaßen ab und hatten einen gemeinsamen Gegner, »den großen Apparat der Plantagenbesitzer und ein Gesellschaftssystem, das Terror gegen schwarze und weiße Leibeigene erlaubt«.5 Anfangs wurden nicht alle nach Amerika gebrachten Schwarzen als Sklaven betrachtet; viele wurden wie Schuldknechte behandelt. Mit der Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung, insbesondere mit dem verstärkten Anbau von Tabak und Baumwolle, stieg dann der Bedarf an Arbeitskräften und Land erheblich.
Der Landhunger wurde durch die Besetzung und Eroberung immer größerer Gebiete befriedigt. Die amerikanischen Ureinwohner erwiesen sich dabei zunehmend als Hemmnis für den »Fortschritt«, den die weißen Europäer brachten. Just in dieser Zeit wurden auch die Darstellungen der amerikanischen Ureinwohner in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften zunehmend negativ. Es erzeugt eben weniger moralische Skrupel, wenn man diejenigen, die man auslöscht, bloß als »Wilde« und nicht als menschliche Wesen betrachtet. Also deklarierte man die amerikanischen Ureinwohner zu einer Rasse von geringerem Wert – zu unzivilisierten Wilden – und rechtfertigte damit ihre Ausrottung.6
Die wachsende Nachfrage СКАЧАТЬ