Название: Die UNO
Автор: Reinhard Wesel
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783846352922
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Kombiniert ergibt das eine Vierfeldertafel (vgl. Menzel 2001, S. 21ff):
Das Menschenbild des klassischen Realismus ist negativ, zumindest skeptisch: der Mensch mag vernunftbegabt sein, ist aber vorrangig triebgesteuert, am eigenen Wohl und Nutzen interessiert und nur begrenzt lernfähig. Kooperation ist immer fragil, realistischer ist es, sich auf Selbsthilfe zu verlassen und dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das bedeutet militärische Aufrüstung und die wiederum führt dank des Sicherheitsdilemmas zum Wettrüsten. Der Friedensbegriff ist negativ definiert, nämlich dass kein Krieg ist. Wenn es zum Krieg kommt, muss er gewonnen werden können – oder zumindest für einen Angreifer nicht zu gewinnen sein, was ihn abschrecken soll. Diese Logik gilt auch auf anderen Politikfeldern: Selbstbestimmte Kontrolle über Ressourcen ist verlässlicher als Kooperation um gemeinsame Güter. Die souveränen Nationalstaaten sind die wesentlichen Akteure in einem anarchischen internationalen System, in dem Macht ausschlaggebend ist und also möglichst eine Vormachtstellung zu sichern ist – Hegemonie statt Zusammenarbeit ist die praktische Konsequenz.
Die kritische Gegenposition zum lange vorherrschenden Machtrealismus liefert der „Idealismus“, der Mensch und Gesellschaft für durch Argumente beeinflussbar und zum Guten lernfähig hält: Vernunft und Fortschritt machen eine friedliche Welt möglich, in der Konflikte durch Ausgleich und Kooperation lösbar sind. Der Anarchie zwischen den Staaten ist mit sachlicher Aufklärung und rationalem (Ver-)Handeln zu begegnen, zumal wenn weltweiter Wohlstand durch ungehinderten Austausch und internationale Arbeitsteilung entsteht. Dieser Gedankenwelt entstammt auch der zu einer Orthodoxie gewordene „Sozialkonstruktivismus“, der statt Staat, Macht und Interessen als gegebene Realitäten zu analysieren herausarbeiten will, wie politische Wahrnehmung, Kommunikation und Normen die internationalen Beziehungen bestimmen – oder gar erst „konstruieren“. Während das Sicherheitsdilemma ein „realistischer“ Ausgangspunkt ist, bleibt eine Art „Unsicherheit-der-Umsetzung-Dilemma“ als Konsequenz der „idealistischen“ Vorstellungen.
Eine vermittelnde Synthese zwischen macht-fixiertem Realismus und moral-ambitioniertem Idealismus bieten Ansätze des „Institutionalismus“; der hat zwar auch kein freundlicheres Menschenbild als der Realismus, zieht aber daraus andere Konsequenzen: Kooperation ist prinzipiell möglich und sinnvoll, nur muss sie realistisch und nicht idealistisch fundiert sein; eben der Eigennutz kann zur Zusammenarbeit motiveren – wenn sie sich eindeutig auszahlt. Verlässlich kontrollierte Rüstungsbegrenzung kann das Sicherheitsdilemma neutralisieren, damit Ressourcen für produktivere Nutzung freimachen und somit den Wohlstand bei allen Kooperationspartnern mehren. Internationale Kooperation zwischen den Staaten braucht internationale Institutionen aller Art zur Friedenssicherung – aber im Sinne eines weit gefassten positiven Friedensbegriffs, der auch zur Wahrung der Menschenrechte, zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen anleitet.
Für kritische Analysen grundlegend, aber für praktische Anregungen offenkundig wenig hilfreich ist der sog. „Strukturalismus“, der in der Marx’schen – also nicht in der „realsozialistischen“ – Tradition gründet: Er unterlegt allen inter- oder transnationalen Beziehungen eine ökonomische Basis; in den Strukturen des kapitalistischen Weltsystems sind Wohlstand und Macht ungleich verteilt, wofür Kolonialismus, Imperialismus und Abhängigkeitsbeziehungen, aber auch Krieg verantwortlich zu machen sind. Die an Eigeninteresse und Selbsthilfeprinzip orientierte Politik der Nationalstaaten führt zu Dominanz, Sicherheit und Wohlstand für einen Teil der Welt, damit aber auch zu Abhängigkeit, Ausbeutung und Unterentwicklung für andere Teile. Zwischenstaatliche Kooperation führt unter diesen Bedingungen nicht zu Frieden und Gerechtigkeit; dazu wäre ein radikaler Wandel der Strukturen der Ungleichheit vorauszusetzen.
Die theoretische Auseinandersetzung über internationale Politik wird seit Jahrzehnten geführt, oft in langen Wellenbewegungen nach intensiven Debattenrunden – meist recht zeitgeistabhängig und immer modebewusst; die verästelten Differenzierung sind nur schwer überschaubar – Abgrenzung und Konkurrenz beleben auch hier das Geschäft. Besser orientieren kann eine schlichte Dreiteilung:
Macht-basierte Ansätze gehen in realistischer Tradition von den Machtbeziehungen unter Staaten aus und sind prioritär an Sicherheit interessiert; weil internationale Kooperation direkt von der Machtverteilung zwischen den beteiligten Staaten abhängt, geben sie ihr nur geringe Chancen; den Staaten unterstellen sie, kompromisslos immer nur ihren relativen Vorteil zu suchen, damit kein anderer bessergestellt wird.
Interessens-basierte Ansätze untersuchen in z.B. institutionalistischer Perspektive die Interessenkonstellationen von Staaten und auch anderer Akteure, aus denen sich reelle Motive für Kooperation ergeben; den Akteuren unterstellen sie, absolute Vorteile für sich zu suchen, auch wenn andere noch bessergestellt werden.
Wissens-basierte Ansätze legen in kognitivistischer bzw. konstruktivistischer Interpretation Prozesse der Wissensdynamik, der Kommunikation und der Identitätsbildung zugrunde, die verbindliche Normen für kooperatives Verhalten schaffen; den staatlichen Akteuren unterstellen sie, durch die Interaktion untereinander und besonders mit nicht-staatlichen Akteuren lernen zu können, allseitige Vorteile zu suchen.
Die politische Bedeutung dieser akademischen Debatten für die Organisation der Vereinten Nationen lässt sich reduzieren auf die Kernfrage: Leben wir noch im Zeitalter der „Anarchie“ zwischen den Staaten oder sind wir schon im Stadium einer „global governance“?
Seit den Anfängen der Lehre von den Internationalen Beziehungen galt, dass zwischen den Staaten Anarchie herrsche und also letztlich das Recht des Mächtigeren gelte, weil es über den souveränen unabhängigen Staaten keinerlei legitime Instanz gibt, die Autorität hätte, deren Verhalten zu regeln; diese realistische Einsicht wurde trotz der stetigen Entwicklung des Völkerrechts und Erfahrungen mit gelingender Kooperation zum verfestigten Dogma, das vielfach bezweifelt, aber nicht grundsätzlich widerlegt werden konnte.
In jüngerer Zeit überwog allerdings zumindest rhetorisch das modische Wunschdenken von „global governance“ oder „Weltregieren“: das Versprechen lautet, dass zielorientierte und planvolle Regelung von politischen und gesellschaftlichen Prozessen auch ohne von oben steuernde Zentralinstanz möglich sein soll, wenn die Rolle von Staaten eingeschränkt oder gar tendenziell ersetzt durch die Aktivität von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die national wie international „vernetzt“ agieren – also ohne eine supranationale Leitung auskommen.
Problematisch sind beim sog. „Weltregieren“ allerdings zentrale Annahmen und Einschätzungen, die nicht so ganz der politischen Wirklichkeit gerecht werden: was wirklich ist, ist zwar sicherlich nicht so einfach ohne theoretische Reflexion zu erfassen oder zu verstehen – aber es ist halt wirksam. Denknotwendige aber zum Teil nur stillschweigend vorausgesetzte Elemente von „global governance“ existieren bisher nur als Ideen oder als Behauptungen, allenfalls als schwache Tendenzen: Die unterstellte Gemeinwohlorientierung einer „globalen“ Zusammenarbeit ist allenfalls als kontrafaktisch anmutende Hoffnung eher technokratischen Charakters annehmbar; die Prognose vom Bedeutungsverlust der Staaten als meist destruktive Machtzentren zugunsten der Zunahme zivilgesellschaftlicher Selbstregierung ist normativ ambitioniert, aber insgesamt wenig wahrscheinlich; die entscheidende Frage, ob und wie so etwas wie eine (groß-)machtunterlegte politische Führung der „governance“ nötig ist, wird ausgeblendet. Weil das „global governance“-Denken ohne Beachtung seiner stillschweigenden Voraussetzung einer globalen Ordnung ausgesponnen wird, ist dabei eben das politische Problem als schon erledigt vorausgesetzt, zu dessen Lösung oder wenigstens Milderung über Multilateralität nachgedacht und internationale Kooperation versucht wird.
Was das СКАЧАТЬ