Janowitz. Rolf Schneider
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Название: Janowitz

Автор: Rolf Schneider

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783955102654

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СКАЧАТЬ sich jetzt auf sein Zimmer begeben, um einen Brief zu vollenden. Der Brief, sagte er, gehe an Clara Westhoff, seine Frau.

      Ah, sagte Sidonie, Sie sind noch verheiratet? Wollten Sie sich nicht scheiden lassen?

      Es ergab sich nicht, sagte er. Ich fühle Verpflichtungen. Auch wegen Ruth, unserer Tochter. Sie wissen, wie hochbegabt Clara ist, denken Sie nur an die schöne Büste, die sie von Ihnen geschaffen hat. Sie ist eine Künstlerin durch und durch. Leider sehe ich die beiden zu selten, Clara und Ruth. Clara hat Verständnis dafür. Sie weiß, ich besitze unstete Nerven. Immerfort treiben mich Schmerzen, Neugierde, Unruhe, Sehnsüchte, auch Frauen. Sie treiben mich hierher. Wie kann ich zugleich bei Clara sein und bei Ihnen?

      Hier sind Sie jedenfalls stets willkommen.

      Er lächelte matt. Er liebkoste ihre Hand, verbeugte sich etwas und wandte sich der Treppe zu. Sie suchte sich einen Korbsessel und setzte sich neben ein Fenster. Sie griff nach dem Roman, den sie sich jüngst hatte schicken lassen, »The Man of Property« von John Galsworthy, der Autor, hatte sie gelesen, galt in Großbritannien als ein bedeutendes Talent. Sie blätterte in dem Buch, las ein paar Sätze und ließ es sinken.

      Die Porträtbüste, die Rilkes Frau von ihr verfertigt hatte, war in Paris entstanden, auf Rilkes Drängen hin. Clara Westhoff war eine kräftige Frau mit vorspringendem Kinn, großen Händen und tiefer Stimme, der Dichter wirkte zierlich und unscheinbar neben ihr. Sidonie dachte an die Sitzungen im Atelier der Bildhauerin, die über viele Stunden gingen und in denen sie sich möglichst wenig bewegen sollte. So wie zuvor auch bei Max Švabinsky. Die Erinnerung an den Maler war nicht sehr angenehm. Er hatte ihr geschmeichelt, er hatte ihr geschrieben, er war zu Besuch nach Janowitz gekommen, zusammen mit einer ältlichen Person, die seine Ehefrau war. Er hatte von Sidonie Skizzen angefertigt, anschließend das große Porträt begonnen und sie berührt, flüchtig zunächst, dann intensiver, immer wieder, was ihr anfangs peinlich gewesen war, ehe es sie zu schmeicheln begann. Schließlich wurde sie seine Geliebte.

      Für Švabinsky war es ein erotisches Abenteuer, deren er mehrere hatte. Vielleicht dachte er, dass sie es ähnlich nahm, aber sie nahm es nicht so, vielmehr brachte sie in die Beziehung ein hohes Maß an Gefühl, Zuneigung und Anhänglichkeit ein. Sie legte sich eine Wohnung zu in Prag. Sie traf den Geliebten heimlich, Švabinsky, ein verheirateter Mann, hatte bei der gutbürgerlichen Gesellschaft Prags, in der und von der er lebte, auf seinen Ruf zu achten. Die Sache ging über eine längere Zeit, bis Švabinsky erkennen ließ, dass er die Affäre zu beenden gedachte, da er dabei war, eine neue Beziehung einzugehen, die zu seiner Schwägerin Anna Vejrychová.

      Bei Sidonie hinterließ das alles eine tiefe Erschütterung. Sie fühlte sich hilflos. Sie fühlte sich gedemütigt und missbraucht. War sie wirklich missbraucht worden? Sie hatte in die Affäre eingewilligt. Sie hatte es getan, ohne zu bedenken, ob die Sache beständig sein könne. Die Verbindung einer jungen Aristokratin mit einem Künstler von eher zweifelhaftem Ruf hätte, öffentlich geworden, als gesellschaftlicher Regelverstoß gegolten. Das hätte sie gerne ausgehalten. Sie war belesen genug, um die konservativen Moralvorstellungen ihres Milieus nicht zu teilen, in einer der alten Zeitschriften, die ihr Bruder Johannes mitgebracht hatte, fand sie diesen Satz: Eine je stärkere Persönlichkeit die Frau ist, desto leichter trägt sie die Bürde ihrer Erlebnisse. Hochmut kommt nach dem Fall.

      Übrigens war es Johannes gewesen, der den Kontakt zwischen ihr und Švabinsky hergestellt hatte, da er die Bilder des Malers schätzte, die persönliche Begegnung mit diesem gesucht und ihm dann den Auftrag für ein Porträtbildnis seiner Schwester Sidonie erteilt hatte.

      Sidonie stürzte sich in eine Italienreise. Mailand, Genua, Siena, Venedig, Florenz. Alte Gebäude, Denkmäler, Museen, Natur. In Mailand begann sie eine Affäre mit einem jungen italienischen Advokaten, auch er verheiratet, damit wollte sie die quälenden Erinnerungen an Švabinsky betäuben, was ihr leidlich gelang. Sie kehrte nach Böhmen zurück und nach Janowitz. Im Schloss hing als unübersehbare Gedächtnisstütze das große Gemälde, das Max Švabinsky von ihr angefertigt hatte. In ihr Tagebuch notierte sie die Idee, dass die schönste erquicklichste Liebe allein jene sei, die dem Temperament folge, nicht dem Herzen. Fortan wollte sie für die Liebe ihre Freiheit nicht aufgeben und ebenso wenig die Liebe für die Freiheit.

      In der Zeitschrift, die ihr Bruder Johannes zurückgelassen hatte, stand noch dieser Satz: Die Dummheit einer ganzen Welt stellt sich das Geschlechtsleben als eine Sache der Einteilung oder als die geradlinige Resultante ethischer Entschließungen vor. Der Satz entsprach völlig ihrer nunmehrigen Überzeugung. In einem anderen Heft las sie einen mit »Die Frauen« überschriebenen Vierzeiler:

       Ob sündig oder sittenrein?

       Lasst sie doch lieber gleich begraben!

       Ich teile sie in Gefallene ein

      Und solche, die nicht gefallen haben.

      Es waren dies die ersten Male, dass sie mit der »Fackel« von Karl Kraus in Berührung kam.

      In seinem Zimmer legte Rilke den begonnenen Brief an seine Ehefrau Clara beiseite, da er zunächst an Lou Andreas-Salomé schreiben wollte. Warum wollte er dies? Lou war seine erste leidenschaftliche Liebesbeziehung gewesen, sie hatte ihn gehalten, geführt, aufgehoben und plötzlich fallen gelassen, den tiefen Schmerz darüber fühlte er immer noch. Er schrieb ihr Briefe. Er schrieb ihr alles, was ihn bewegte, wo er sich befand, wen er traf, was und wen er liebte, wie er sich fühlte, worunter er litt. Worunter litt er derzeit? Es waren so banale, doch auch existentielle Dinge wie seine Finanzen. Er hatte nicht genügend Geld. Er unterhielt eine kostspielige Bleibe in Paris, er war häufig unterwegs und wohnte, wenn er bei keiner seiner aristokratischen Freundinnen nächtigte, in hochfeinen, also teuren Hotels. Das Unterwegssein war ihm Bedürfnis und war ebenso Flucht: vor sich selber, vor seinen Liebschaften, vor der Welt. Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber so weit aufgegangen, dass sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte. Es war furchtbar, sie zu sehen in der dunkeln Wiese, weit offen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde.

      In diesem Augenblick durchfuhr ihn ein Schmerz. Betroffen war wieder der rechte Unterkiefer, also jener Zahn, dessen scharfe Kante er mit seiner Zunge erspüren konnte. Das letzte Mal hatte ihn diese Beschwernis gestern ereilt, bei der Bahnfahrt von Prag nach Beneschau, der Schmerz hatte bald nachgelassen und sich dann ganz verflüchtigt, dass er nicht mehr daran denken musste. Was sollte er jetzt tun? Einst hatte ihm seine Mutter beigebracht, Zahnschmerzen zu betäuben, indem man eine Gewürznelke in die kariöse Öffnung tat. Wie sollte er hier, in Janowitz, zu einer Gewürznelke gelangen? Sollte er hinuntergehen in die Schlossküche und das Dienstpersonal fragen? Wie hieß Gewürznelke auf Tschechisch? Hastig durchkramte er seine Unterlagen, fand das Röhrchen mit dem Aspirin, nahm eine der Tabletten und schluckte sie, nachdem zuvor sich genügend Speichel in seiner Mundhöhle gesammelt hatte.

      Er unterließ es auch, jetzt an Lou zu schreiben. Briefe an die einstige Geliebte waren keine den äußeren Umständen geschuldete Notwendigkeit, sie waren ein eingeübter Reflex. Er dachte an die derzeit letzte seiner Freundinnen, vor der er geflohen war, auch hierher nach Janowitz, zu der schönen Baronesse Sidonie. Magda hatte um seinetwillen auf Konzerte verzichtet, sie hing an ihm, sie hing ihm an, er war mit ihr durch halb Europa gereist, Berlin, Innsbruck, Genf, die Lombardei, Venetien, in Paris kam es, bei einem Opernbesuch, zu der unvorhergesehenen und überaus peinlichen Begegnung mit einer seiner früheren Geliebten, der hemmungslosen Marthe Hennebert. Die war, als er erstmals mit ihr schlief, noch minderjährig gewesen. Bei Bekannten, auch bei Sidonie, hatte er damals um Geld gebettelt, das Marthe zugutekommen sollte. Nunmehr, in Begleitung von Magda, traf er sie wieder, unter der pompösen Stuckdecke des Palais Garnier.

      Die Aspirin-Tablette СКАЧАТЬ